Das Ende des Dollar-Privilegs
von Delors’ theatralischem Auftritt 1983 vielleicht schockiert gewesen sein, aber sie wusste es zu schätzen, dass er es war, der Mitterrand von der überragenden Bedeutung der Währungsstabilität überzeugt hatte. Dann startete Delors 1986 den Binnenmarkt und rief 1988 das Projekt der Währungsunion wieder ins Leben. Der Binnenmarkt – ein europaweiter Markt für Waren, Kapital und Arbeitskraft – war seine Anstrengung, den Integrationsprozess wiederzubeleben, der Anfang der 1980er-Jahre ins Stocken geraten war. Er betrachtete die Währungsunion als „Kronjuwel“ Europas. In der hergebrachten französischen Tradition betrachtete er das Ziel, eine europäische Reservewährung neben dem Dollar zu schaffen, als ein wichtiges Ergebnis dieses Prozesses. Es gelang ihm zwar, ein Bekenntnis zur Vereinheitlichung der Währung in das Binnenmarktgesetz einzubringen, aber keine Frist – das Gesetz nahm nur auf die „schrittweise Verwirklichung“ der Währungsunion Bezug.
Den französischen Politikern verhieß das, dass sie eines Tages in der Lage sein würden, die Kontrolle über das europäische Währungsruder wiederzuerlangen. Ein weiterer Schwächeanfall des Francs Mitte der 1980er-Jahre vergrößerte ihre Begeisterung noch. Die Franzosen schrieben ihre Schwierigkeiten dem Verfall des Dollars ab Ende 1985 zu, der dazu führte, dass die D-Mark ohne Verschulden Frankreichs stärker wurde. Dies stärkte die Argumente, die dafür sprachen, Frankreich von der Tyrannei eines dollarzentrierten internationalen Systems zu befreien.
Die Regierung Kohl war absolut für den Binnenmarkt, weil die deutsche Exportwirtschaft besseren Marktzugang immer gut gebrauchen konnte, aber gegenüber der Währungsunion hatte sie eine vorsichtigere Einstellung. Persönlich war der Kanzler zwar dafür, aber er warnte Mitterrand, dass die Deutschen nur ungern ihre kostbare D-Mark aufgeben würden, wenn sie nicht im Gegenzug etwas Außerordentliches dafür bekommen würden. Damit spielte Kohl wohl auf die Art von tiefgreifender politischer Integration an, die es Europa und somit auch Deutschland ermöglichen würde, sich auf der außenpolitischen Bühne zu behaupten. Oder er hatte die Möglichkeit im Blick, dass Deutschland eines Tages wiedervereinigt werden könnte.
In seiner Unterstützung des Binnenmarktes und seinem gleichzeitigen Widerwillen, sich auf eine Währungsunion zu verpflichten, hatte Kohl in der britischen Premierministerin Margaret Thatcher eine Verbündete. Den Binnenmarkt betrachtete sie als Hebel, um die Regulierung zurückzufahren, aber die Währungsunion betrachtete sie als gallisch-dirigistische Verschwörung. Gegen den Widerspruch einiger ihrer Spitzenberater hielt sie das Pfund Sterling aus dem WKM heraus.
Aber weder Kohl noch Thatcher konnten den gewieften Delors aufhalten. Als dieser sich vom Binnenmarkt ab- und der Währungsunion zuwandte, hatte er die Unterstützung von Paris, dessen Unbehagen mit dem Status quo umso größer wurde, je länger es gezwungen war, den währungspolitischen Diktaten Deutschlands zu folgen. Das Gleiche galt für andere europäische Länder mit schwachen Währungen, zum Beispiel für Italien.
Dann bekam Delors aus einer höchst unwahrscheinlichen Quelle Unterstützung, nämlich vom deutschen Außenministerium. Im Februar 1988 verfasste Außenminister Hans-Dietrich Genscher ein Memorandum, in dem er Argumente für eine europäische Zentralbank skizzierte. Traditionell hatte das deutsche Außenministerium der Verteidigungsallianz mit den Vereinigten Staaten den Vorzug gegeben, aber seine Denkschrift war ein Hinweis darauf, dass die wachsende Schwäche der Sowjetunion zu einer Verschiebung der Prioritäten geführt hatte. Genscher selbst war überzeugter Europäer. Er betrachtete die Schaffung einer europäischen Notenbank als nächsten logischen Schritt in Richtung der politischen Integration und als Befreiung der deutschen Politik von ihren historischen Fesseln. Zudem betonte er, dass eine europäische Notenbank, die für eine einheitliche Währung zuständig wäre, Europas Abhängigkeit vom Dollar vermindern würde – ein Argument, das bei den Franzosen mit Sicherheit Anklang fand.
Die wirtschaftspolitisch Verantwortlichen – zum Beispiel Finanzminister Stoltenberg und Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl – waren zwar entsetzt, aber da eine bombastische internationale Koalition gegen sie stand, konnten sie nicht verhindern, dass eine Expertenkommission unter Delors gebildet wurde,
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