Das Ende
unvollendet.
Pankaj Patel blieb auf der Amsterdam Avenue stehen, um das erhabene Gotteshaus anzustarren. Die Kathedrale war mit Lichterketten geschmückt, doch Patel war alles andere als festlich gestimmt. Es war mehr als drei Monate her, seit der Professor für Psychiatrie in die Gesellschaft der Neun Unbekannten Männer aufgenommen worden war, und die Anspannung infolge der heimlichen Begegnung mit dem Ältesten lastete noch immer auf seinem Gemüt.
Er starrte auf den Friedensbrunnen der Kathedrale. Die ihn umgebende Rasenfläche war von Schnee bedeckt und von bronzenen Tiergestalten eingefasst. Die detailreichen, in Stein gemeißelten Brunnenfiguren stellten den heroischen Kampf des Guten gegen das Böse dar – der Erzengel Michael enthauptete Satan, dessen gehörnter Kopf zu einer Seite herabhing. Noch ein Tag bis zur Wintersonnenwende – dem Tag der Toten. Wenn uns wirklich das Ende der Tage bevorsteht …
»Dad, mach schon! Ich komme zu spät zu unserer Weihnachtsfeier.«
Patel wandte sich seiner zehnjährigen Tochter Dawn zu. Die langen onyxfarbenen Haare des Mädchens, zu Zöpfen geteilt, hingen über ihren Wintermantel, und aus den Engelsaugen des Kindes sprach eine Kombination aus Sorge und Ungeduld. »Entschuldigung. War ich wieder geistig abwesend?«
»Total.« Sie zog ihn am Handgelenk und führte ihn zum Eingang der Domschule, die vom Kindergarten bis zur achten Klasse für Kinder aller Glaubensbekenntnisse offenstand. »Vergiss nicht, ich bleib nach der Schule zur Bandprobe. Wir sehen uns beim Abendessen.«
»Warte!« Er holte sie auf dem von Raureif bedeckten Rasen ein und ließ sich auf ein Knie nieder. »Du weißt, ich liebe dich. Du bist Gottes Geschenk für deine Mutter und mich, unser kleiner Engel.«
»Dad« – sie berührte mit ihren in Wolle gepackten Fingern seine Wange –, »jetzt ist dein Knie ganz nass.«
Schweren Herzens blickte er seinem einzigen Kind nach, wie es sich beeilte, zu den anderen Kindern zu stoßen, die vor dem Schuleingang zusammenliefen. Während er an dem nassen Fleck auf seinem rechten Hosenbein herumrieb, setzte er seinen Weg die Amsterdam Avenue hoch zum östlichen Campus der Columbia University fort.
Lower East Side, Manhattan, New York
8:44 Uhr
Mary Klipots Arme zitterten, obwohl sie das Lenkrad gepackt hielt und ihre Hände die Perlen des Rosenkranzes so fest umklammerten, dass die Knöchel weiß hervortraten. Der Stop-and-go-Verkehr auf der First Avenue hatte sich seit zehn Minuten nicht von der Stelle gerührt, und das Polizeiaufgebot entlang der angrenzenden United Nations Plaza war überall.
Ihr Blick schnellte von der Digitaluhr am Armaturenbrett zum Innenspiegel. Sie starrte auf die ein Meter zwanzig große Gerippepuppe, die auf den Rücksitz geschnallt war. Die Figur trug ein Hochzeitskleid und auf dem Kopf eine rote Perücke, die zu Marys eigenem Haar passte. » Santa Muerte, ich habe keine Zeit mehr. Leite mich, Engel. Zeig mir den Weg.«
Es verstrichen einige Augenblicke. Dann ging es auf den zwei Spuren zu ihrer Linken wie durch ein Wunder plötzlich voran. Sie zog von ihrer rechten Spur rüber, kam auf einer vereisten Stelle kurz ins Rutschen und bog dann auf der verzweifelten Suche nach einem Parkplatz auf die East 45 th Street ab.
Der Verkehr kroch in westlicher Richtung und überquerte die Second Avenue. Die Parkhäuser waren alle voll, und am Bordstein, wo sich der Schnee häufte, war Parken verboten. Die Digitaluhr rückte auf 8:54 Uhr vor. Frustriert schlug Mary mit den Handflächen aufs Lenkrad und zerbrach dabei den Rosenkranz.
Das ist nicht gut. Du fährst zu weit nach Westen.
Das Baby in ihrem Bauch strampelte, als sie nach rechts auf die Third Avenue und dann noch einmal auf die 46. Straße abbog. Nachdem sie einmal um den Block
gekurvt war, fuhr sie abermals nach Osten in Richtung United Nations Plaza. Als sie die Second Avenue überquerte, hämmerte ihr Puls in den Schläfen. Bleib nicht wieder auf der First Avenue stecken, sonst kommst du zu spät. Sie schaute kurz hoch in den Innenspiegel. »Bitte, dünnes Mädchen, hilf mir, einen Parkplatz zu finden. «
Die Gasse zu ihrer Linken war so schmal, dass sie beinahe daran vorbeigefahren wäre. Eingezwängt zwischen zwei Hochhäusern, war es eine Nische, die nur für Lieferanten reserviert war. Mary bog in den Weg ein und folgte ihm etwa zwanzig Meter, bis er als Sackgasse an einem stählernen Abfallbehälter endete.
In Dunkel gehüllt, sodass man ungestört und
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