Das Engelsgrab
hing, aber in ihrem Gefüge riss nichts mehr.
Suko hatte zudem seine korrekte Position erreicht. Er schob seinen Arm vor und hielt mir die rechte Hand entgegen. Seine Lage war nicht besonders rosig. Auch für ihn war es gefährlich, wenn er mir hoch helfen wollte. Mein Gewicht konnte ihn wieder leicht nach vorn und damit in die Tiefe reißen.
Es war wichtig für mich, genau den richtigen Zeitpunkt zu erwischen.
Wenn ich zu lange losließ und nur an einer Hand hing…
Nur nicht daran denken.
»Jetzt!«
Ich fasste zu. Nur auf die Hand hatte ich mich konzentriert. Es kam mir vor, als wäre ich dabei in die Höhe geschnellt, und meine Finger schlossen sich dabei um Sukos Gelenk. Mit der linken Hand umfasste ich noch die Dachrinne. An ihr stützte ich mich ab so gut wie möglich und schaffte es tatsächlich, mich in die Höhe zu schieben. Auch mein Winkel zur Hauswand hin hatte sich zu meinen Gunsten verändert. So war es mir möglich, meine Schuhspitze dagegenzustemmen, um Suko so etwas Hilfestellung zu geben.
Ich kam hoch. Beide keuchten wir. Als Griffe wünschte ich mir Eisenfinger und keine normalen, an denen leider der Schweiß klebte. So kam ich weiter hoch. Die Dachrinne diente auf einmal als Stütze für mein linkes Bein, und wenige Sekunden danach lag ich auf dem Dach.
Schräg, wie ein dicker, großer Käfer, denn so hatte ich den besten Halt.
Wir waren beide matt und auch platt. In diesem Moment interessierte uns überhaupt nichts anderes mehr. Es ging einzig und allein um uns beide. Wir brauchten diese Ruhe, um wieder einigermaßen zu Kräften zu kommen.
Das Zittern ließ nur langsam nach. Das Herz schlug noch immer schneller. Ich war schweißgebadet. Ich dampfte. Ich musste aussehen wie jemand, der mit seiner Kleidung in die Sauna gegangen war.
Zumindest fühlte ich mich so.
»Wir haben es gepackt, John!« hörte ich Sukos Stimme. »Wir sind nicht gefallen.«
»Du hast es geschafft«, gab ich schweratmend zurück.
»Hör auf, das hättest du auch gebracht.«
Ich drehte meinen Kopf so, dass ich über das Dach hinweg bis zum First hochschauen konnte. Dort hielt sich niemand mehr auf. Da waren weder Belial zu sehen noch Toby Cramer.
Mein Grinsen zeigte Verbitterung. Es war klar, dass Belial seine Chance genutzt hatte. Der Junge gehörte jetzt ihm. Was er damit anstellen würde, darüber brauchten wir nicht lange nachzudenken.
»Wir müssen hier weg!« sagte Suko, als hätte er meine Gedanken erraten.
Wir nahmen es sofort in Angriff und drehten uns so, dass wir auf die Dachgaube mit dem offenen Fenster schauen konnten. Das Dach war auch jetzt noch rutschig, denn die Luft hatte an Feuchtigkeit zugenommen, aber wir kamen weiter. Sogar kniend, uns mit den Händen und den Beinen abstützend.
Erst jetzt fiel mir wieder ein, dass es noch eine Zeugin gegeben haben musste. Lilian Cramer hatte sicherlich alles beobachtet, aber sie war leider nicht zu sehen. Möglicherweise war sie dem Stress nicht gewachsen gewesen. Es konnte ihr nicht entgangen sein, wie ihr Sohn von dem Engel der Lügen geholt worden war.
Suko kroch als erster durch das offene Fenster in das Zimmer hinein.
Er kippte nach vorn, rollte sich ab, stand wieder auf den Beinen und schaute sich um.
Ich kletterte normal hindurch. Erst jetzt hatte die Spannung nachgelassen. Im Zimmer stehend, atmete ich auf und merkte, dass ich ein Mensch war. Das Ziehen in den Schultern war ein Andenken an meine verzweifelte Hängeaktion. Auch hatte ich mir irgendwie die linke Kniescheibe gestoßen. Das waren nicht mehr als Peanuts. Es zählte einzig und allein, dass ich am Leben war.
Suko ging durch das Kinderzimmer wie jemand, der etwas suchte. So war es auch, denn als er sich umdrehte, hob er die Schultern. »Sorry, aber ich sehe Lilian Cramer nicht.«
»Keine Ahnung, wo sie steckt. Leicht muss es für sie nicht gewesen sein.«
»Komm!«
Ich ging hinter Suko her. Die Wohnungstür stand nicht offen. Wir hörten auch keine Laute aus dem Hausflur und fanden Lilian Cramer schließlich im Wohnzimmer.
Sie saß in einem Sessel und starrte ins Leere. Sie schien sich zu einer Steinfigur verändert zu haben. Sie war völlig in sich gekehrt und apathisch. Uns nahm sie nicht zur Kenntnis. Beim Näherkommen - es brannte inzwischen die Deckenleuchte - sahen wir, dass sich ihr Mund bewegte, aber kein Wort drang über die Lippen. Sie schien mehr mit sich selbst zu reden.
Erst als ich Lilian an der Schulter berührte, schreckte sie zusammen.
Ein leiser Schrei floh
Weitere Kostenlose Bücher