Das Erbe - Das Tal - Season 2 ; Bd. 2
drinnen kauerte und um mein Leben bangte.
Und Vic?
Irgendwann, während ich draußen herumirrte, erinnerte ich mich wieder. Wir hatten uns am Abend zuvor gesehen und sie hatte erzählt, dass sie die erste Stunde vom Unterricht befreit war für die Probe des Schulchors. Vic hatte eine Stimme, die einen einfach umhaute. Ich konnte ihr stundenlang zuhören, wenn sie Karaoke sang. Ihre Stimme war wahnsinnig flexibel und ihre Interpretationen verrieten Kraft und Individualität. Viele versuchten, sie zu überreden, bei Talentwettbewerben mitzumachen, aber das war nicht ihr Ding, wie sie sagte.
Jedenfalls kam ich auf die Idee, im Musiksaal nach ihr zu suchen. Als ich ihn betrat, hing nicht wie sonst der Geruch nach Holz und Wachs über dem Raum. Vielmehr roch es verbrannt, wie überall im Gebäude. Ich kam nicht weit. Ein Polizeibeamter hielt mich schon an der Tür auf und erklärte, in dem Saal seien die Toten aufgebahrt. Vic konnte also nicht hier sein. Sie hatte nicht auf der Liste gestanden.
Ich wollte bereits wieder gehen, als ich plötzlich Vics Vater erkannte, der leichenblass aus dem Raum stürzte, an mir vorbeirannte und dann in der Toilette verschwand, die neben dem Musiksaal lag.
Und da wusste ich es.
Der Holzboden unter meinen Füßen schwankte. Er hob und senkte sich im Rhythmus meines Herzschlags, der immer schneller wurde.
Ich hatte Vic gefunden.
Sie lag im Musiksaal, weil Jacob ihr nicht das Leben geschenkt hatte, so wie mir.
Mir kann niemand erzählen, dass Jacob keinen Plan hatte. Nur konnte ihn außer mir niemand verstehen. Er tötete die Schüler, die ihm in den Weg traten. Und die zu meinem Jahrgang gehörten. Bis heute denke ich, dass ich der achte Name auf seiner Liste war. Nur hatte er es nicht geschafft abzudrücken.
Der gesamten Schülerschaft der Highschool war von der Schulleitung eine kostenlose Therapie angeboten worden. Mir natürlich nicht. Ich war der Einzige, den man nicht fragte. Und ganz ehrlich – ich konnte es ihnen nicht verdenken.
20. Im Zeichen des Adlers
Die Kamera lief weiter, sie bewegte sich langsam von einer Seite zur anderen, scannte den Raum von links nach rechts und wieder zurück.
Ich stellte mir vor, wie alle dort draußen David Freemans Geschichte gehört hatten. Es war ein öffentliches Bekenntnis, eine Beichte, von der jeder erfahren würde. Denn die Ereignisse damals hatten zu den Ereignissen von heute geführt. Es war der Horror, es war der Wahnsinn, aber es machte mir nichts aus. Tom hatte behauptet, er würde mir meine Seele nehmen, aber ich würde es nicht zulassen. Denn was ich erzählt hatte, war schlichtweg die Wahrheit. Wenn auch noch nicht die ganze.
Im Raum herrschte Schweigen. Die Stille fühlte sich anders an als zuvor. Ich hatte jedem von ihnen Stoff zum Nachdenken gegeben. Ich hatte meine Zuhörer an eine Grenze geführt, an der die eigenen Ängste zum Stillstand kamen.
Auch deshalb sprach ich nicht weiter. Zeit war das Einzige, was wir alle gewinnen konnten. Vielleicht war das meine größte Leistung in den letzten Minuten gewesen. Dass ich diese Geschichte erzählt hatte, aber dennoch auf etwas anderes konzentriert war. Darauf, wie ich die Mauer durchbrechen konnte. Wie ich die Kontrolle gewann. Irgendwo, ich fühlte es, gab es eine Lücke. So etwas wie ein schwarzes Loch, durch das wir schlüpfen konnten. Und deshalb musste ich, so schwer es mir fiel, meine eigenen Gefühle auf null herunterfahren. Nichts von dem, was damals passiert war, durfte im Moment Macht über mich haben.
Und deshalb sah ich auch, als ich aufblickte, nicht mehr Vic in Julia, sondern nur ein Mädchen, mit dem ich befreundet war. Vic war tot. Und Julia saß dort vorne, die Bombe in den Händen, Todesangst in ihren Augen.
Vielleicht ahnte Tom, worüber ich nachdachte, ganz sicher sogar. Aber ebenso sicher schien ihm mein Scheitern. Er dachte, wenn ich mich vor der Welt entblößte, dann könnte er mich vernichten. Aber das passierte nicht.
Ich hatte immer gefürchtet, die Wahrheit offenzulegen, weil ich nicht wusste, was dann geschehen würde. Was, wenn meine Gefühle, und zwar die tiefsten, die absolutesten, die wahrhaftigsten, nur Wut hervorrufen würden? Zorn? Abgrundtiefen Hass? Dann würde ich die Beherrschung verlieren und Rache üben. Wie Jacob. Dagegen hatte ich all die Jahre gekämpft.
Und jetzt geschah das Gegenteil. Ich wurde ruhig. Gelassener, als ich es die letzten Jahre gewesen war. Indem ich alles aussprach, verlor es die beängstigende
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