Das Erbe - Das Tal - Season 2 ; Bd. 2
»Great Falls. Wir kennen den Namen. Wir kennen den Ort. Aber nur du warst dabei.«
Natürlich kannte jeder den Namen. Wie vermutlich alle in den USA und Kanada. Aber niemand hatte mich jemals damit in Verbindung gebracht. Meine Tarnung war perfekt gewesen.
Ich spürte, wie die Stimmung im Raum umschwang. Die Verwirrung war greifbar. Für einen Moment stand nicht mehr Tom im Fokus, sondern ich selbst. Ich hörte Bewegung in meinem Rücken, ein Flüstern.
»Und? Warst du damals auch auf der Gedenkfeier?«, fuhr Tom fort.
Ich holte tief Luft. Er näherte sich mit wohlüberlegten und zugleich boshaften Fragen dem Zentrum meiner Vergangenheit.
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich kann dich nicht hören.«
»Nein.«
»Nein?« Tom machte einen Schritt nach vorne, breitete die Arme aus, präsentierte sich seinem Publikum, wandte sich der Kamera zu, wirbelte wieder herum und stieß mit einem erstaunten Seufzer aus: »Nein?«
Dann kehrte er zu seinem Platz am Fenster zurück.
Er war der Ankläger in diesem Tribunal. Wir hatten endgültig die Rollen vertauscht. Er machte mich zum Angeklagten und ich hatte Probleme, mich dem zu widersetzen. Der Sog, den er mit seinen Fragen auslöste, entwickelte eine unglaubliche Kraft. Ich hätte es wissen müssen. In all den Jahren hatte ich mich versteckt, aber ich hatte immer in den Augen anderer die Frage gelesen: Wer bist du?
Jetzt war es so weit. Zeit für die Antwort. Ich wurde zurückgeschleudert in die Wochen und Monate nach dem Amoklauf.
»Warum warst du nicht dort?«, fragte Tom weiter. »Schließlich war auch deine Freundin erschossen worden, oder? Vic. Victoria Banks. Du hättest in der ersten Reihe sitzen sollen.«
Unwillkürlich senkte ich den Kopf und starrte auf den Boden, wo Glassplitter das Linoleum bedeckten. Ein Stück entfernt lag ein Blatt mit dem Wappen des Grace Colleges und ich konnte Roses Schrift erkennen.
John Milton dokumentiert mit seinem Werk »Das verlorene Paradies«, dass das Gute nicht über das Böse gesiegt, sich stattdessen das Böse in der Welt festgesetzt hat, mit dem die Menschheit immer wieder zu ringen hat.
»Sieh in die Kamera. Du sollst in die Kamera schauen«, befahl Tom.
Ich richtete den Blick wieder nach oben und fixierte die Videokamera. Das rote Lichtsignal verriet, dass sie nach wie vor aktiv war.
»Also, David, erklär uns bitte, warum du nicht auf der Gedenkfeier warst, nicht an der Beerdigung teilgenommen hast, warum du in keinem der Kondolenzbücher stehst.«
»Ich konnte nicht.«
»Du konntest nicht? David Freeman konnte nicht kommen. Was denn, hattest du wichtige Termine?«
»Nein.«
»Und dennoch hast du dich nicht von Vic verabschiedet. Wie ich hörte, wart ihr ein Traumpaar. Du hast sie geliebt, oder?«
»Ja.«
Tom holte tief Luft, runzelte die Stirn, als würde er angestrengt nachdenken.
»David Freeman. Oder sollte ich besser sagen: David Flanegan? Flanegan, Flanegan. Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor. Euch auch?«
Er erhielt keine Antwort. Ich hätte mich gerne umgedreht, um die Reaktionen der anderen zu erfahren, aber nun war die Waffe auf mich gerichtet. Und ich fragte mich, ob es nicht besser war, er würde mich erschießen. Dann wäre es vorbei. Ich hätte meinen Schwur erfüllt, oder? Aber dann hätte Tom nicht erreicht, was er wollte. Denn ganz offensichtlich war er nicht auf meinen Tod aus.
»Sagt euch der Name Jacob nichts? Klingelt es nicht in euren Ohren? Denkt nach.«
Die Stille hinter mir war vollkommen. Sie war perfekt, bis Roses Stimme ertönte. »Hör auf, Tom. Wir haben es verstanden.«
»Rose Gardner.« Tom lachte. »Die perfekte Studentin. Wie immer. Okay, Rose, wir wissen, du kennst die Antwort. Aber dein Freund hier braucht noch ein bisschen Nachhilfe, deswegen lassen wir ihn lieber sprechen. Also, David«, er hob die Hand und deutete mit dem Finger auf mich. »Wer ist Jacob, der Junge, der am 11. März 2009 in Great Falls sieben Menschen erschossen hat?«
Ich holte tief Luft. »Sein Name«, sagte ich. »Sein Name ist Jacob Flanegan.« Ich richtete mich auf und starrte nun direkt in die Kamera. »Jacob Flanegan ist … ich verbesserte mich, »er war mein Bruder. Genauer gesagt, mein eineiiger Zwilling.«
Flashback
Ja, ich bin der Zwillingsbruder von jemandem, der sieben Menschen auf dem Gewissen hat. Ich teile die gleichen Gene mit jemandem, der morgens in die Schule gegangen ist und sie alle abgeknallt hat.
Und nein, ich habe es nicht kommen sehen. Ich bin Jacob an diesem
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