Das Erbe - Das Tal - Season 2 ; Bd. 2
heute die gleichen Vorwürfe machten wie ich? Sich den Kopf zerbrachen, warum sie nicht eher gehandelt hatten? Ihn nicht aus dem Verkehr gezogen hatten?
An dem Morgen jedenfalls, als Jacob das Blutbad in unserer Schule anrichtete, war alles normal. Es war normal, dass ich meinem Bruder nicht begegnete, während ich frühstückte.
Außerdem hatte ich es eilig. Ich war verantwortlich für die Versuchsreihe in der Chemiestunde. Ich sehe mich wieder in der Küche stehen, wo meine Mom dabei war, Pfannkuchen für uns zu backen. Meinem Vater gehörte das größte Tapezier- und Malergeschäft in Great Falls. Er hatte es von seinem Vater übernommen, weshalb auf den Autos auch immer noch der Schriftzug prangte: Flanegan & Son.
Er könne jederzeit noch ein s an Son anhängen, hatte Dad jahrelang erklärt. Doch als Jacobs Schwierigkeiten in der Schule begannen, während ich zunehmend als Überflieger galt und davon sprach, Medizin zu studieren, erwähnte er es nicht wieder.
An diesem Morgen saß Dad auf seinem Platz in der Küche und las die Zeitung.
»Früh dran«, murmelte er.
Und während ich Cornflakes in die Schüssel schüttete, gab ich ebenso knapp zurück: »Viel zu tun.«
Moms Blick ging vom Herd zum Fenster. »Es gießt wie aus Kübeln«, sagte sie zu meinem Vater. Dann wandte sie sich an mich. »David, fahr doch heute mit Dad und Jacob.«
Ich gab reichlich Milch über mein Frühstück und schüttelte den Kopf. »Ich nehme das Fahrrad.«
Dad brachte Jacob seit seinem Unfall, also seit drei Jahren, jeden Tag in die Schule. Erst weil er monatelang nur auf Krücken gehen konnte, dann weil er fürchtete, Jacob würde die Schule wieder schwänzen. Jacob lachte darüber nur. Oft genug winkte er Dad zu, um dann sofort zum Bus zu gehen und zurück in die Stadt zu fahren.
Jedenfalls wollte ich mit dem Fahrrad fahren, um Jacob nicht zu begegnen. Die Sache mit Vic war gerade mal drei Wochen her und wir sprachen nicht miteinander.
Ich glaube, eines der schlimmsten Dinge für Dad danach war, dass er ihn an diesem Morgen pünktlicher als sonst vor der Highschool abgesetzt hatte.
»Er war wie immer.« Wie oft habe ich ihn das danach sagen hören. »Er hat sich sogar bei mir bedankt. Ich habe gedacht, vielleicht gibt es noch eine Chance.«
Als ich begann, mich für Vic zu interessieren, waren aus Jacob und mir bereits zwei Personen geworden. Wir sahen uns noch immer ähnlich, aber er wurde immer mehr zu einer vernachlässigten Variante meiner selbst. Das Gesicht bleich, die Haare strähnig, kamen wir nicht mehr in Versuchung, die Kleider zu tauschen. Jacob kaufte seine Sachen auf dem Flohmarkt, nicht, weil es ihm egal war, was er trug. Nein, er wählte die Kleidungsstücke bewusst aus. Erschien in weißen Rüschenhemden zum Frühstück, deren Stoff so dünn und brüchig war, dass Mom jammerte, sie wüsste nicht mehr, wie sie die Risse flicken sollte. So kam er auch zu dem langen Mantel, den er am Tag des Amoklaufes trug.
Es waren zweieinhalb Monate vergangen, seit ich Vic am Wasserfall geküsst hatte. Und vor gut drei Wochen hatte ich sie das erste Mal mit nach Hause gebracht.
Jacob hatte mittlerweile seinen Ruf weg an der Schule. Die meisten wussten, wie sehr er abgedriftet war, eine Menge Geschichten waren über ihn im Umlauf. Aber Vic ignorierte sie alle. So war sie eben. Sie gehörte zu den wenigen Menschen, die keine Vorurteile haben. Beim Abendessen unterhielt sie sich mit Jacob und mein Bruder war gesprächiger als sonst. Sie sprachen über die Oscars, die gerade vergeben worden waren, und über Heath Ledger, der den Preis als bester Nebendarsteller posthum verliehen bekommen hatte. Ich gebe zu, es ärgerte mich, wie gut sie sich verstanden. Ich war eifersüchtig und es war seit Langem das erste Mal, dass ich in seinem Gesicht etwas von mir selbst erkannte.
»Wir könnten doch mal etwas zu dritt unternehmen«, erklärte Vic und damit war sie Moms beste Freundin. Denn Mom war die Einzige, die nicht akzeptieren konnte, wie fremd Jacob und ich uns geworden waren.
Aber als Vic gegangen war, passte ich Jacob vor seiner Zimmertür ab und sagte: »Geh uns aus dem Weg und lass die Finger von ihr, verstanden.«
Und als er mir nach langer Zeit zum ersten Mal wieder dieses schiefe Bruce-Willis-Lächeln schenkte, erschrak ich vor mir selbst und sagte: »Na ja, gegen einen Kinobesuch hätte ich nichts einzuwenden.«
Der Besuch fand auch statt. Nur gingen sie ohne mich. Sie sahen The Dark Knight, der noch einmal in einer
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