Das Erbe der Braumeisterin - Thomas, C: Erbe der Braumeisterin
gehadert hatte. Warum hatte der Herr aller Geschicke, nachdem er doch bereits die ganze frühere Zeit ihres Lebens ausgelöscht hatte, nicht auch diese schrecklichen Wochen aus ihrem Gedächtnis tilgen können? Warum hatte sie all das in vollem Bewusstsein miterleben müssen, die furchtbaren Wundschmerzen, die Angst zu sterben, die peinigende Scham?
»Es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, dass nichts davon meine Schuld war. Am schlimmsten aber war die Angst, dass derjenige, der mir all das angetan hatte, wiederkommt und versucht, es zu Ende zu bringen. Es gibt sogar heute noch Tage, an denen ich mich davor fürchte.«
Später war sie zu der Einsicht gekommen, dass ihr diese grauenhafte Zeit geholfen hatte, ihre Berufung zu finden: das Gute, das die Beginen ihr hatten zuteilwerden lassen, an andere weiterzugeben. Als sie das begriffen hatte, war tiefer Friede über sie gekommen, wofür sie Gott dankbar war. Doch nicht nur aus Dankbarkeit hatte sie sich von den Beginen in der Krankenpflege unterweisen lassen – Juliana war Heilerin aus Leidenschaft. Sie machte keine großen Worte und verstieg sich nicht in langatmige nutzlose Erklärungen, sondern ging behutsam und geschickt zu Werke und versuchte auf alle erdenklichen Arten, den von ihr betreuten Kranken Linderung zu verschaffen. Nach fast fünfzehnjähriger Erfahrung in der Heilkunde hatte sie sich in Köln einen Ruf erworben, von dem mancher Medicus nur träumen konnte.
Madlen war in Grübeleien versunken, während sie zuschaute, wie Juliana das Bein ihres Großvaters versorgte. Die ganze Zeit über war es ihr richtig vorgekommen, dem Fremden nicht zu verraten, dass sie eine Begine zur Freundin hatte, die ihr Gedächtnis verloren hatte und womöglich in Wahrheit tatsächlich Blithildis hieß. Woher sollte man wissen, ob der Mann nicht Böses im Schilde führte? Zu gut erinnerte sie sich an Julianas Worte. Am schlimmsten aber war die Angst, dass derjenige, der mir das angetan hatte, wiederkommt und versucht, es zu Ende zu bringen . Es gibt Tage, da fürchte ich mich immer noch davor.
Doch mittlerweile waren Zweifel in Madlen erwacht. Was, wenn Juliana wirklich einen Bruder hatte? Wenn er ihr helfen konnte, ihre verlorene Kindheit wiederzufinden?
Madlen dachte angestrengt über die Unterhaltung nach, die sie mit dem Fremden geführt hatte, sie versuchte, sich jedes einzelne Wort ins Gedächtnis zu rufen. Nagende Ungewissheit breitete sich in ihr aus, es war gut möglich, dass er einfach nur die Wahrheit gesagt hatte. Ihre Sorge, vielleicht einen verhängnisvollen Fehler begangen zu haben, nahm zu.
»Juliana«, sagte sie zögernd. »Wenn du die Möglichkeit hättest, jemanden aus deiner Vergangenheit wiederzusehen – irgendwen, der dir vielleicht nahegestanden hat –, würdest du das wollen oder wäre es dir lieber, nie mehr an das, was vor deinem Aufwachen geschah, erinnert zu werden?«
Juliana blickte auf, eine steile Falte zwischen den fein gezeichneten dunklen Brauen. »Über diese Frage habe ich auch schon oft nachgedacht. Aber ich kann sie nicht beantworten, weil ich mir nicht sicher bin. Ich habe ein gutes Leben und bin zufrieden. Bei den Beginen habe ich alles, was ich brauche, und meine Arbeit macht mir sehr viel Freude. Ich wüsste nichts, wogegen ich das eintauschen wollte.«
»Aber angenommen, du hättest Eltern. Oder … Geschwister. Wäre das nicht ein Grund, sich erinnern zu wollen?«
»Die Beginen sind meine Familie. Wir sind wie Schwestern. Und du bist meine liebste und beste Herzensfreundin. Ich entbehre nichts.«
Madlen war erleichtert, auch wenn ein kleiner Teil ihres Gewissens immer noch Zweifel anmeldete. Doch nun war es ohnehin zu spät, denn sie kannte den Namen des Fremden nicht, und sie wusste auch nicht, wo er sich aufhielt. Er konnte sonst woher stammen.
Eines musste sie jedoch noch versuchen. »Juliana, sagt dir der Name Blithildis was?«
Juliana stutzte, dann nickte sie. »Aber ja, ich kenne einige Frauen mit diesem Namen. Erst vorige Woche war ich auf der Bach und habe eine Frau entbunden, die so hieß. Und in der Woche davor war ich bei einer Müllersfrau namens Blithildis. Und heißt nicht die Frau vom Schlachter am Neumarkt ebenfalls so?« Sie runzelte die Stirn. »Wie kommst du überhaupt darauf?«
»Ach, aus keinem besonderen Grund. Ich dachte nur, dass es ein hübscher Name ist.«
Juliana verknotete die Enden des frischen Verbands, den sie um Cuntz’ dürren Unterschenkel gewickelt hatte. Er litt seit
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