Das Erbe der Braumeisterin - Thomas, C: Erbe der Braumeisterin
Jahre aufholen wolle, indem sie ihn so häufig wie möglich besuchte, aber die Meisterin hatte sie auf jene wissende Art angesehen, die darauf schließen ließ, dass sie den wahren Grund kannte.
Tatsächlich war Blithildis überglücklich, Johann wiederzuhaben, sie genoss jeden Augenblick in seiner Gesellschaft, und es wärmte ihr das Herz, dass er der Ehemann ihrer besten Freundin war und dass die beiden einander aufrichtig zugetan waren. In ihren kühnsten Träumen hätte sie sich so viel Freude nicht vorstellen können. Doch dass ihr das Blut in den Adern sang und ihr Inneres jubilierte, sobald sie den Fuß über Madlens Schwelle setzte, hing mit ganz anderen Dingen zusammen. Etwa damit, wie Veit sich zu ihr hinwandte, wenn sie den Raum betrat. Oder mit dem Klang seiner Stimme, wenn er sie begrüßte, obwohl sie sich nicht angekündigt hatte.
»Ich weiß es eben«, hatte er einmal schlicht gesagt, als sie von ihm hatte wissen wollen, wie er ahnen konnte, dass sie es war, die gerade hereinkam.
»Der Arm ist fast wieder in Ordnung«, sagte Blithildis. Vorsichtig strich sie mit dem Finger über die wulstige, bereits gut verschorfte Wunde. Der Stumpf zuckte unter ihrer Berührung, und sie erschrak.
»Habe ich dir wehgetan?«
Er schüttelte den Kopf. »Weißt du, was seltsam ist?«
»Nein, was denn?«
»Dass ich manchmal denke, ich hätte die Hand noch. Ich spüre sie bis in die Fingerspitzen.«
»Das kommt wohl häufig vor«, meinte sie.
»Mit den Augen ist es ähnlich, aber leider nur im Traum. Dann träume ich, ich könnte wieder sehen. Die blühenden Bäume, die Blumen. Die lachenden Gesichter der Menschen. Das fehlt mir am meisten, weißt du. Die Gesichter.« Seine blinden Augen hatten sich in ihre Richtung gewandt, es war, als glitten sie über sie hin. »Manchmal bitte ich Johann, mir die Menschen, mit denen ich zu tun habe, genau zu beschreiben, ich lasse mir dann von ihm erzählen, wie sie dreinschauen, wenn sie sich freuen oder traurig oder wütend sind, und er versucht dann, es mir zu schildern, gutmütig wie er ist. Dein Gesicht muss ich mir zum Glück nicht beschreiben lassen, denn ich kenne es ja noch.«
Blithildis musste lachen. »Veit, ich sehe doch nicht mehr aus wie früher!«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich bin inzwischen mehr als doppelt so alt wie damals«, sagte sie belustigt.
»Erzähl mir, wie du aussiehst, Blithildis.«
»Keine Ahnung«, sagte sie etwas verunsichert. »Im Konvent haben wir keinen Spiegel.«
»Hast du dich nie selbst gesehen seit der damaligen Zeit?«
»Doch«, gab sie zu. Einmal, das war erst im letzten Jahr gewesen, hatte sie eine reiche Dame behandelt, die Frau eines Overstolzen. Sie hatte die ganze Nacht am Bett der fiebernden Frau gewacht, und als sie am Morgen vor ihrem Aufbruch ihr Gebende und den Umhang wieder anlegen wollte, hatte die Kranke noch geschlafen. Den Spiegel an der Wand hatte Blithildis eher aus Zufall bemerkt, er hatte das Sonnenlicht eingefangen, das durchs Fenster hereinfiel, und sie hatte nicht vorbeigehen können, ohne sich anzusehen.
»Mein Haar ist lang und dunkel, wie Nussholz. Mein Gesicht ist gebräunt, weil ich viel draußen bin. Meine Zähne sind noch gut, ich achte auf sie, weil ich weiß, was für schreckliches Leid schlimme Zähne bringen können und weil ich nichts mit dem Zahnreißer zu tun haben will.« Sie überlegte, was noch wichtig war. »Meine Augen sind blau, so wie deine, vielleicht etwas dunkler. In den Augenwinkeln und um den Mund habe ich einige Falten. Ich schätze, ich sehe wie eine ganz normale, gesunde Frau aus, die bald drei Jahrzehnte auf dem Buckel hat.«
Doch gerade eben fühlte sie sich wie verrückte, alberne, aufgeregte vierzehn, und hier bei ihm zu sitzen und über solche Dinge zu reden war höchst bedenklich, erst recht, als er sich zu ihr beugte und zögernd die Hand ausstreckte. »Darf ich dich berühren?«
Sie holte Luft. »Wenn du es willst.« Ihr Herz klopfte hart, als er nach ihr tastete. Sie nahm seine Hand und legte sie an ihre Wange. Seine Haut roch nach Kräutern und frischem Stroh, und seine Fingerspitzen waren rau und ein wenig schwielig. Sie glitten behutsam über ihre Brauen, ihre Wangenknochen und ihr Kinn. Zum Schluss berührten sie federleicht ihre Lippen. Blithildis konnte kaum atmen, sie war davon überzeugt, er müsse das Hämmern ihres Pulsschlags hören. Zusammenhanglos fragte sie sich, ob das, was sie hier tat, bereits sündhaft war, denn ihre Gedanken waren es in jedem
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