Das Erbe der Braumeisterin - Thomas, C: Erbe der Braumeisterin
brüllte vor Schmerzen, versuchte mit verrenktem Arm, an die Stelle zu gelangen, und als er es nicht schaffte, stürzte er sich mit gezücktem Messer auf Cuntz. Veit, der immer noch stöhnend am Boden lag, rollte sich herum, genau vor die Füße von Jobst, der über das unerwartete Hindernis stolperte und fiel. Endlich löste Blithildis sich aus ihrer Starre, aufschluchzend kam sie auf die Knie, dann stemmte sie sich auf die Beine und warf sich mit ihrem ganzen Gewicht auf Jobst. Sie merkte, wie ihre Brust mit Wucht gegen den aus seinem Rücken ragenden Bolzen prallte, sie keuchte unter dem harten Schmerz, doch sie spürte auch, wie der Holzpfeil tief in den unter ihr liegenden Körper drang. Jobst zuckte unter ihr und blieb dann still liegen.
Blithildis fiel zur Seite, außerstande, Atem in ihre Lungen zu ziehen. Cuntz kam zu ihr gelaufen, das faltige alte Gesicht starr vor Entsetzen.
»Allmächtiger!«, schrie er.
Blithildis rang nach Luft, erst nach mehreren Versuchen glückte es ihr, einen Fingerhut voll Atem zu schöpfen. Sie fühlte sich wie an jenem Tag, als sie ungefähr zehn Jahre alt gewesen war und beim Klettern von einer Mauer gefallen war. Sie war auf dem Rücken aufgeprallt und hatte wie ein Fisch auf dem Trockenen vergeblich nach Luft geschnappt, genau wie jetzt. Sie tastete über ihre Brust, dorthin, wo es sich anfühlte, als hätte sie ein Hammerschlag getroffen. Ihre Finger fanden das Silberkreuz. Ungläubig starrte sie es an, dann begriff sie. Als sie sich mit aller Kraft gegen Jobst geworfen hatte, war das Kreuz zwischen ihre Brust und den Bolzenschaft geraten, es hatte sie geschützt und gleichzeitig den Bolzen fast vollständig in Jobsts Rücken getrieben. Blithildis kroch auf Knien zu ihm hin. Jobst atmete ziehend und qualvoll, aus seinem Mund rann ein dünner Blutfaden. Seine Augen rollten wild, er starrte sie an, konnte sich aber kaum noch bewegen.
»Himmel«, stieß Cuntz hervor. »Du verblutest, Mädchen.«
»Das ist nichts«, wehrte sie ab. Doch das stimmte nicht, sie sah es selbst. Als Jobst ihr das Gewand aufgeschlitzt hatte, war die Klinge ihr über die Rippen gefahren und hatte eine klaffende Wunde hinterlassen, die vom Brustbein bis zur Taille reichte.
Sie nahm Jobst das Messer aus der schlaffen Hand und schnitt sich einen Streifen Stoff aus ihrer Cotte, den sie auf die Stelle presste. Das musste vorerst reichen.
Veit hatte sich mühsam am Tisch hochgezogen, er tastete sich vorsichtig zu ihr hin. Sein Gesicht war bleich und schmerzverzerrt. »Was kann ich tun?«
»Mir Gesellschaft leisten, während Cuntz Hilfe holt.«
Cuntz war bereits bei der Tür. »Ich bin gleich zurück!«
Veit tastete nach Jobst. »Er atmet noch. Wie schwer ist seine Verletzung?«
»Er wird sterben.«
»Wann?«
»Vielleicht in einer halben Stunde, vielleicht vorher. Der Bolzen steckt in seiner Lunge.«
Vage dachte sie, wie seltsam es war, dass Cuntz den Mann mit einer Waffe niedergestreckt hatte, die Johann als Geschenk zugedacht war. Fast so, als habe der Alte in Stellvertretung ihres Bruders ihren Schänder richten wollen. Er hätte auch seinen Tischlerhammer oder sein Schnitzmesser oder den Meißel nehmen können, seine Kammer war voll von Werkzeugen, die sich ebenso gut zum Bearbeiten von Holz wie zum Töten eigneten. Doch er hatte die Armbrust genommen.
Jobst starrte sie immer noch an. Er würde noch eine ganze Weile hier liegen, bei vollem Bewusstsein, aber reglos, und dabei spüren, wie sein Inneres langsam mit seinem Blut volllief.
Er sollte ihr leidtun, denn er war ein menschliches Wesen, und er starb. Sie sollte ein Gebet für ihn sprechen, doch zunächst sollte sie für sich selbst die Gnade erflehen, ihm verzeihen zu können. Sie sollte …
Vor ihren Augen begann alles zu verschwimmen. Verlor sie zu viel Blut? Die Wunde war vielleicht tiefer, als sie gedacht hatte. Oder war das einfach alles zu viel für sie gewesen? Gleichwie, sie spürte die nahende Ohnmacht.
Sie griff nach Veits Hand, schob sie sich unter die Rippen, drängte sie gegen den Stoff, der sich bereits vollgesogen hatte. »Hier musst du drücken«, murmelte sie, dann wurde alles um sie herum schwarz.
Cuntz war an dem verschreckt dreinglotzenden Ludwig vorbeigehumpelt und hatte beim nächstbesten Haus an die Tür gehämmert. Als niemand öffnete, versuchte er es bei einem anderen, doch auch dort regte sich nichts. Auf der Gasse war kein Mensch zu sehen. Erst beim fünften Haus tat ihm die alte Mutter des Apothekers
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