Das Erbe der Pandora
»Bis gleich.«
»Gehen Sie nur, Kleines«, sagte Marge
hinter ihr her.
Iris dachte über die Szene in der
Küche nach, während sie über den Flur zu dem Zimmer ging, das sie als Büro
nutzte. »Nun, du hast ihr ja gesagt, daß sie ein eigenes Leben führen soll«,
erinnerte sie sich laut.
Sie öffnete ein Fenster und ließ die
frische Meeresbrise herein. Das kleine Zimmer hatte zwei Fenster, die in der
Ecke aufeinandertrafen. Das eine ging zu dem kleinen Streifen Garten hinaus,
der ihr Haus von dem ihrer Nachbarin trennte, und das andere ging zum hinteren
Garten hinaus und erlaubte den Blick auf das Meer. Die Sonne stand schon
tiefer, war aber noch nicht untergegangen. Sie nahm sich vor; den
Sonnenuntergang heute abend und an jedem anderen Abend, an dem es ihr möglich
war, zu beobachten. Sie sog den Ausblick in sich auf, während sie das Salz von
Glasrand leckte und einen ausgiebigen Schluck von der Margarita nahm. Die
Margarita war stark, besonders auf leeren Magen, und ihr schwirrte schon der
Kopf.
»Warme Hors d’œvres!« Kaum hatte Iris
ihren nagenden Hunger bemerkt, da klopfte Marge auch schon an die offene Tür
und kam mit einem kleinen Teller herein, auf dem Quesadillas, garniert mit je
einem Klacks Guacamole und Salsa, zubereitet waren.
»Marge, Sie sind ein wahres Wunder. Ich würde vielleicht um Ihre Hand anhalten.«
Marge kicherte. »Ach, damit bin
ich durch. Aber Ihre Mutter... In der Hinsicht sollten wir etwas
unternehmen.« Sie zwinkerte Iris zu und schlüpfte aus dem Zimmer.
Iris nahm sich eine Ecke der
gegrillten Tortilla mit dem geschmolzenen Käse und dachte über die Möglichkeit
einer Heirat ihrer Mutter nach. Sie schob die Quesadilla in den Mund und leckte
sich die fettigen Finger ab. Plötzlich kam es ihr so vor, als hätte sich ihre
Arbeitskleidung in ein Haarhemd verwandelt. Sie trug sie seit dem frühen Morgen
und hatte sie kaum beachtet, außer wenn sie sie vor dem Spiegel auf der
Damentoilette zurechtgerückt hatte. Jetzt schien alles zu spannen und zu
zwicken, und sie mußte einfach aus den Sachen heraus.
Sie hob ihre Aktentasche auf den Tisch
und wollte gerade in ihr Schlafzimmer gehen, um sich umzuziehen, als sie die
Neugier übermannte. Sie ließ das Messingschloß aufschnappen und nahm die
Sammlung von Pandora-Spielen, die Toni ihr gegeben hatte, und den Ordner mit
den Briefen heraus. Sie blätterte die etwa fünfzig Seiten durch. Einige Briefe
kamen von Eltern, die Pandora die Schuld dafür gaben, daß die Kinder soviel
Zeit damit verschwendeten, die Spiele der Firma zu spielen. Die meisten waren
von Lehrerverbänden, Interessen Vertretern der Kinder, religiösen Gruppierungen
und anderen, die angesichts der gewalttätigen und sexuellen Inhalte der Spiele
besorgt waren. Die Organisationen hatten Namen wie »Mütter gegen Gewalt in den
Medien«, »Bürger für sichere Ätherwellen«, »Christliches Bündnis« und »Denk
nach«.
»Und ich dachte, das Briefeschreiben
wäre eine bedrohte Kunst«, meinte Iris zu sich. Sie schob sich noch eine
Quesadilla-Ecke in den Mund und schmierte aus Versehen Guacamole auf ein
Schreiben von »Kinder in der Krise«. Mit einer Serviette tupfte sie es ab. Sie
schleuderte ihre Pumps in die Ecke, öffnete den Reißverschluß ihres Rockes ein
wenig und setzte sich auf ihren Schreibtischstuhl.
Die meisten Briefe waren in den
vergangenen drei Jahren geschrieben worden, als die Thematik der Darstellung
von Sex und Gewalt in Kino und Fernsehen und deren Auswirkung auf Kinder in das
Bewußtsein der Öffentlichkeit gekommen waren. Es war oft die Rede vom V-Chip,
den Eltern einbauen lassen konnten, um bestimmte Fernsehsendungen zu
blockieren, und es wurde der Vorschlag gemacht, ein ähnliches System bei
Computerspielen einzuführen.
An alle Briefe waren Antworten von
Bridget geheftet, in denen sie ihr Verständnis für die Sorgen des Schreibers
zum Ausdruck brachte. Sie legte dar, daß Pandora die Möglichkeiten untersuchte,
ihre Software zu kennzeichnen, um die Eltern vor möglicherweise anstößigem
Material zu warnen, und daß Pandora Methoden testete, mit denen der Zugang zu
bestimmten Inhalten gesperrt werden konnte. Sie dankte dem Absender stets für
sein Interesse an der Verbesserung der Pandora-Spiele.
Ein Jahr später verschickte sie
Briefe, in denen sie stolz verkündete, daß Pandora Schritte unternommen hatte,
um ihren Befürchtungen entgegenzuwirken. Sie stellte dar, daß sie und andere
Hersteller von Game-Software freiwillig damit
Weitere Kostenlose Bücher