Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
Die Stimme eines jungen Rekruten hallte unangemessen laut durch die Stille. Er verstummte verlegen, deutete auf eines der Eier und flüsterte: »Seht doch, ein Riss!«
»Keelin! Beim Schwerte des Asnar, was treibst du hier?«
Keelin fuhr erschrocken zusammen. Der hölzerne Sims des Fensters, durch das er gerade gespäht hatte, entglitt seinen Fingern, als hätte ihm ein Pfeil das Herz durchbohrt. Langsam drehte er sich zu der hoch gewachsenen Gestalt des Stallmeisters um, die unheilvoll hinter ihm aufragte.
»Nichts …«, murmelte er schuldbewusst, doch noch während das Wort über seine Lippen kam, packte ihn zwei kräftige Finger am Ohr und zerrten ihn vom Fenster fort.
»Nichts?«, grollte der Stallmeister. »Das nennst du nichts, wenn du die zukünftigen Kundschafter Nymaths heimlich bei dem geheiligten Ritus der Wahl beobachtest?«
»Es … es tut mir Leid, Herr«, stammelte Keelin unter Schmerzen. »Ich wollte … wollte doch nur einen kurzen Blick auf die Jungvögel werfen.«
»Mit einem ›Tut mir Leid‹ kommst du mir dieses Mal nicht durch, Bürschchen«, knurrte der Stallmeister. Endlich ließ er Keelins Ohr los, packte ihn jedoch gleich darauf am Arm und zerrte ihn neben sich her auf die Stallungen zu. »Der Nachschub für die Garnison ist längst auf dem Weg zum Pass. Fünfzehn Ställe warten darauf, ausgemistet zu werden. Alle rackern sich ab, damit sie bereit sind für die Pferde der Krieger, die noch heute vom Pandaras zurück erwartet werden. Alle – nur du nicht. Und ich muss meine kostbare Zeit auch noch damit verschwenden, dich zu suchen. Was denkst du dir eigentlich?«
Denken? Keelin blickte den Stallmeister beschämt an. Gedacht hatte er sich eigentlich nichts. Es war mehr ein Gefühl gewesen, das ihn hierher geführt hatte. Mitten in der Nacht war er erwacht. Das Herz hatte ihm so heftig in der Brust geschlagen, als hätte er gerade einen furchtbaren Albtraum durchlitten. Doch er konnte sich an keinen Traum erinnern. Eine Zeit lang hatte er sich schlaflos auf dem Lager hin und her geworfen, in die Stille der Nacht gelauscht und versucht, wieder einzuschlafen. Doch der Schlaf war nicht zu ihm zurückgekehrt.
Und dann hatte er es plötzlich gespürt. Es war nichts, das er dem Stallmeister hätte erklären können, nichts, das er als Entschuldigung hätte vorbringen können. Aber es war da gewesen. Wie eine wispernde Stimme, die der Nachtwind ihm zutrug, war die Ahnung durch die Kammer gestrichen, dass die Falkenjungen noch an diesem Morgen schlüpfen würden.
Die sieben anderen Jungen, mit denen er sich die viel zu kleine Kammer teilte, hatten nichts davon gespürt. Sie hatten tief und fest auf dem strohbedeckten Boden geschlafen. Nur Keelin war von einer rastlosen Unruhe erfüllt gewesen, die es ihm unmöglich gemacht hatte, noch länger auf dem Lager zu verweilen.
Das große Ereignis beschäftigte ihn seit Tagen. Kein Wunder, die Gespräche innerhalb der Bastei drehten sich kaum noch um etwas anderes. Das kleine Fenster im Bruthaus war schon im vergangenen Lenz zu seinem Lieblingsplatz geworden. Wie oft hatte er von dort aus die brütenden Falken beobachtet, wie oft sich gewünscht, einmal das Ritual der Wahl mit eigenen Augen beobachten zu dürfen! Diesmal wäre der Wunsch fast in Erfüllung gegangen. Fast – wenn er nicht die Zeit vergessen hätte. Fasziniert hatte er auf die Gelege gestarrt und dabei nicht einmal bemerkt, dass die Sonne aufging. Jetzt schämte er sich dafür, die ihm übertragenen Aufgaben so schändlich vernachlässigt zu haben. Doch am meisten ärgerte er sich darüber, dass er die Vorgänge im Bruthaus nicht weiter verfolgen konnte.
Keelin ließ den Kopf hängen und blickte finster zu Boden, während er neben dem Stallmeister hertrottete.
»… die Feierlichkeiten zu Ehren der Erwählten wirst du gewiss nicht mit ansehen, und den freien Nachmittag kannst du auch streichen! Jemand, der so nichtsnutzig ist wie du … Kein Wunder … lieber im Hafen bleiben sollen … nichts als Ärger mit dir … Bastard, ohne Blutsabstammung … kannst du von Glück sagen …« Nur bruchstückhaft erreichte der wütende Wortschwall des stämmigen Katauren Keelins Ohren. Doch der Junge, fünfzehn Winter alt, schwarzhaarig und von schlaksiger Statur, musste gar nicht erst hinhören, um zu wissen, was der Stallmeister sagte. Er kannte jedes Wort. Esel und Wallach, die übelsten Schimpfwörter der Katauren, gehörten neben Hurensohn, Bastard und Nichtsnutz noch zu den
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