Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
Das Falkenjunge hingegen schien zufrieden. Es blinzelte schläfrig und kuschelte sich so wohlig in Keelins Hand, als wäre sie sein Nest.
»Wo … wo soll ich Horus absetzen?«, stieß Keelin hervor und blickte den Falkner fragend an.
»Horus?« Der Falkner zog erstaunt eine Augenbraue in die Höhe.
Ein empörtes Raunen lief durch die Menge der umstehenden Rekruten.
»Ja, so heißt er«, gab Keelin zur Antwort. Und dann begriff er: Er hatte den Namen gehört! Plötzlich hatte Keelin das Gefühl, die Beine würden ihm den Dienst versagen. Ihm wurde schwindlig, und er musste sich mit einer Hand an der Tischkante festhalten. Unter den zornigen Blicken der Falkneranwärter, die nun noch einen weiteren Winter militärischer Ausbildung vor sich hatten, kämpfte er darum, die Fassung zu bewahren. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
»Er wacht auf!«
Das Erste, was Keelin sah, als er die Augen öffnete, war das bärtige Gesicht des Falkners, der sich besorgt über ihn beugte. »Wie geht es dir, Junge?«
»Wie geht es Horus?« Keelin sprach so leise, als traute er sich nicht, das Falkenjunge laut beim Namen zu nennen.
»Das lobe ich mir!« Der Falkner lachte. »Macht sich mehr Sorgen um den gefiederten Freund als um die eigene Gesundheit. Du bist wahrlich ein geborener Falkner.« Er deutete auf eines der Nester und fügte hinzu: »Dem Jungtier geht es gut, es ist wieder im Nest. Die Mutter wird es noch einen Silbermond lang versorgen, dann kann deine Ausbildung beginnen.«
»Ausbildung?«, stieß Keelin ungläubig hervor. »Heißt das, dass ich … dass ich wirklich …« Er richtete sich auf und blickte den Falkner mit großen Augen an. »Dass ich ein Falkner werden darf?«
»Nun«, der Falkner strich sich mit der Hand nachdenklich über den schmalen, kurz geschnittenen Kinnbart, der unterhalb der Wangenknochen zu zwei kunstvollen Zöpfen geflochten war. »Ich gebe zu, eine so ungewöhnliche Wahl gab es in der Geschichte Nymaths bisher noch nicht.« Er maß Keelin mit einem schwer zu deutenden Blick. »Der Jungvogel hat eine seltsame Wahl getroffen. Du bist kein reinblütiger Raide, das sieht man auf den ersten Blick. Und du hast auch noch keine militärische Ausbildung genossen.« Er schüttelte den Kopf und schien zu überlegen. »Allerdings schreiben die Gesetze unseres Standes keine zwingende Reihenfolge in der Ausbildung zum Kundschafter vor. ›Keinem Manne, dem das Blut der Raiden in den Adern fließt und dessen Geist sich aufschwingt, zu fliegen mit den Falken, ist zu wehren Wissen und Weg zu Falkners Kunst, erwählt ihn ein herrlicher Falke denn‹«, zitierte er eine Passage aus dem Falknerkodex und fügte feierlich hinzu: »Horus hat dich erwählt und dir seinen Namen preisgegeben. Dir und keinem anderen. Das ist nur möglich, wenn auch Raidenblut in deinen Adern fließt. Wir kennen die Beweggründe der jungen Falken nicht, doch wir haben gelernt, ihre Wahl zu achten. In dieser Beziehung verfügen sie über ein sehr viel besseres Urteilsvermögen als wir Menschen.«
»Aber er ist ein Bastard!«, warf einer der Rekruten ein. »Ich kenne ihn, seine Mutter ist eine Onurmetze, eine Buhle, die ihre Dienste in einer Taverne am Hafen anbietet. Er ist ein erbärmlicher Bastard. Ihm einen Falken zu geben wäre eine Schande für die ehrenvolle Gemeinschaft der Kundschafter! Er muss …«
»Er muss selbstverständlich beweisen, dass er der großen Aufgabe gerecht wird«, sagte der Falkner, ohne auf die Beschimpfungen des Rekruten einzugehen. »Es wird sich zeigen, wie stark das Blut seines Vaters in ihm wirkt. Der Kodex besagt indes, dass die Wahl eines Jungtiers nicht in Frage gestellt werden darf.« Er blickte den Rekruten scharf an. »Und danach haben sich alle zu richten, gleich welche Auffassung jeder Einzelne auch vertreten mag. Die kommenden Winter werden Aufschluss darüber geben, ob die Wahl des Falken eine gute war.« Er reichte Keelin die Hand und fügte hinzu: »Nun dann, willkommen im Hause der Falkner.«
Andrach, im Mai 2004
Dienstag 11. Mai
Was für ein Regen!
Bin mit dem Rad nach Hause gefahren, wie immer. Meine Schultasche war klitschnass und ich auch.
Auf dem Heimweg hat es in meinem Ohr wie wahnsinnig gefiept. Ich bin langsamer gefahren, da kam so ein Idiot mit seinem Auto direkt auf mich zu. Ich konnte gerade noch vom Rad springen. Ein Glück, dass ich nicht schneller war, sonst hätte der mich doch glatt umgefahren.
Ich könnte wetten, es war der Gleiche,
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