Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
Ajana ergriff Aszas Hand. »Ich … ich weiß gar nicht, wie ich Euch danken kann.«
»Danken kannst du mir, wenn mir Erfolg beschieden ist«, sagte Asza ausweichend. »Ich werde es versuchen, aber ich kann dir nicht versprechen, dass meiner Bitte stattgegeben wird, denn anders als du damals am Arnad ist er den Weg schon gegangen, der noch vor dir lag. Der Hüter hat ihn bereits empfangen, und er ist dafür bekannt, dass er seine Kinder nicht wieder hergibt.«
»Aber Ihr seid eine Göttin …« Ajanas Zuversicht begann zu bröckeln.
»Das bin ich wohl«, erwiderte Asza sanft. »Doch auch meine Macht endet an der Mündung des Seelenflusses.« Sie gab ein Zeichen, und der Wanderer trat aus den Schatten. Schweigend kniete er neben Keelin nieder, hob ihn auf und trug ihn davon.
»Ich werde tun, was in meiner Macht steht«, versicherte Asza noch einmal. »Doch dir bleibt nicht die Zeit, darauf zu warten, ob mir Erfolg beschieden ist. Dem Götterbaum wurden schwere Wunden zugefügt. Wenn du die Heimreise nicht bald antrittst, wirst du auf ewig in Nymath bleiben müssen.«
»Aber Keelin …« Ajana machte eine hilflose Geste.
»Die Göttin hat Recht, Ajana«, mischte sich Inahwen in das Gespräch ein. »Vhara hat den Baum tödlich verletzt. Sein Leben ist nur mehr eine winzige Flamme, die bald erlöschen wird. Du musst gehen. Sofort! Sonst ist es zu spät.«
»Denk an deine Eltern und an Rowen. Denk an deine Träume.« Asza lächelte wissend. Ihre Gestalt verblasste und mit ihr auch die des Wanderers und Keelins, den er auf den Armen trug.
»Wartet!«, rief Ajana, doch es war zu spät. Die Göttin war fort.
»Hab Vertrauen!« Inahwen legte ihr tröstend den Arm um die Schultern. »Hab Vertrauen«, sagte sie noch einmal. »Du kannst jetzt nichts mehr für ihn tun.«
***
Mit schleppenden Schritten näherte Ajana sich dem Götterbaum. Zu schmerzlich war der Verlust, zu tief die Trauer und zu schrecklich die Gewissheit, nun niemals zu erfahren, ob Asza Keelin helfen konnte.
Wären Inahwen und Aileys nicht gewesen, die sie ermutigten, das, was sie begonnen hatte, zu Ende zu fuhren, sie hätte die Kraft für diesen letzten Weg niemals aufgebracht. Durch einen Schleier aus Tränen sah sie den sterbenden Baum vor sich aufragen. Sie achtete nicht auf die leblosen Körper, die noch immer auf dem Schlachtfeld verstreut lagen, hörte nicht das Wimmern der Frauen, die auf der Suche nach einem bekannten Gesicht oder einem Angehörigen zwischen den Toten umhergingen, und spürte nicht den einsetzenden Regen auf ihrem Gesicht. Alles, was sie fühlte, war eine dumpfe Leere, als sei ein Teil von ihr mit Keelin gestorben.
Ganz in der Nähe waren ein Dutzend Streiter Callugars dabei, Gefallene auf Bahren zu legen und davonzutragen, um sie an geweihter Stätte nach überliefertem Ritual zu bestatten. Doch nichts davon vermochte die dunkle Mauer zu durchdringen, die Kummer und Schmerz um ihr Bewusstsein errichtet hatten.
»Wir sind da.« Aileys berührte sie sanft am Arm. Die Worte hatten etwas Endgültiges, das Ajana erschreckte. Es war widersinnig … Seit Monaten hatte sie diesem Augenblick entgegengefiebert, hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als endlich nach Hause zu können. Dafür hatte sie die Nebel neu gewoben. Dafür war sie ihren Gefährten ins feurige Herz des Wnutu gefolgt. Dafür und nur dafür war sie durch die Wüste geritten.
Und jetzt?
Jetzt, da es endlich so weit war, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als hier noch ein wenig zu verweilen, um Gewissheit über Keelins Schicksal zu erlangen.
»Die Kraft des Baumes schwindet«, hörte sie Inahwen sagen. Die Elbin hatte die Hände an den mächtigen Stamm gelegt, so wie sie es einst auch beim Ulvars getan hatte. »Die Kraftlinien zerfallen schnell«, sagte sie drängend. »Dir bleibt nicht viel Zeit.«
»Ich … ich kann nicht«, murmelte Ajana. Ihr Blick irrte umher, unentschlossen, was sie tun sollte.
»Doch. Du kannst es.« Inahwen löste sich vom Baum, trat auf sie zu und sah ihr tief in die Augen. »Du musst. Du bist es Keelin und Abbas schuldig. Vor allem aber denen, die daheim in Sorge um dich sind.«
Daheim …
Das Wort berührte etwas in Ajana.
Mam, Dad, Rowen. Die schrecklichen Träume kamen ihr wieder in den Sinn, und sie erinnerte sich daran, was Asza am Ulvars zu ihr gesagt hatte: Es ist noch nicht zu spät.
Und plötzlich wusste sie, dass sie keine Wahl hatte. Inahwen hatte Recht. Sie war es Keelin und Abbas schuldig.
Wie
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