Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
war?
Keelin lag im Sterben. Inahwens Kräfte hatten nicht ausgereicht, ihn zu retten. Es gab nichts, das sie noch für ihn tun konnten.
Sie hatte kaum geschlafen. Wie durch ein Wunder war sie unbehelligt aus dem großen Tempel entkommen und hatte sich im Dunkeln einen Weg durch die brennende Stadt zum Götterbaum gebahnt. Sie hatte Inahwen und Aileys bei Keelin wachend vorgefunden. Beide waren verletzt. Doch die schlimmen Nachrichten, die sie für Ajana hatten, wogen schwerer als selbst die Verbrennung, die sie unter der Folter erlitten hatte.
So hatte sie die ganze Nacht an Keelins Seite ausgeharrt, seine Hand gehalten und gehofft, dass er die Augen noch einmal aufschlug. Vergeblich.
Sein Atem war kaum noch zu spüren, sein Geist schien schon weit weg an einem Ort, den sie nicht erreichen konnte.
»Bitte, geh nicht.« Ajana schluckte gegen die Tränen an, aber ihr fehlte die Kraft, die aufkommende Verzweiflung niederzuringen. Da spürte sie, wie seine Kraft noch einmal zu ihm zurückkehrte, und wie er fast unmerklich die Finger bewegte.
»Ajana?« Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Er versuchte sich aufzurichten und stöhnte unter der Anstrengung.
»Keelin.« Hastig wischte Ajana die Tränen fort und umfasste seine Finger mit beiden Händen. »Ich bin hier.«
»Ajana, ich … ich muss dir etwas sagen.« Keelin sprach so schnell, als fürchte er, nicht mehr genügend Zeit zu haben. Er wollte etwas sagen, doch die Laute wurden von einem qualvollen Husten erstickt, der aus den Tiefen seiner Brust drang.
»Nicht jetzt, Keelin!«, flüsterte Ajana erschrocken.
»Doch!« Keelin legte alle Kraft, die er noch besaß, in dieses eine Wort.
Er weiß es! Der Gedanke schnürte Ajana die Kehle zu und trieb ihr die Tränen in die Augen. Er spürt, dass er sterben wird.
»Ajana, hör mir zu.« Seine Finger umschlossen ihre Hand so fest, als fürchte er um ihre Aufmerksamkeit. »Damals im Falkenhaus … als ich … als ich dich … ich wollte dich nicht … nicht verletzen.« Er hustete erneut.
»Ich weiß!« Ajana strich ihm mit der Hand sanft über die Stirn.
Keelin blinzelte und schaute sie aus seinen dunklen Augen an. Sein Atem ging rasselnd.
»Dann ist es gut!«, sagte er, und es war, als sei ihm eine große Last von den Schultern genommen.
»Ja, das ist es.« Ajana umklammerte seine Hand so fest, als könne sie sein schwindendes Leben damit festhalten. »Es … es ist alles gut!« Eine Träne löste sich aus ihren Augenwinkeln und benässte sein Gesicht.
»Nicht weinen!« Keelin versuchte zu lächeln. »Du … du musst jetzt tapfer sein.«
»Aber ich will dich nicht verlieren!« Ajana schluchzte auf. »Ich liebe dich doch!« Für die Tränen gab es nun kein Halten mehr. So viele waren gestorben, so viele hatten ihr Leben gegeben, um das ihre zu schützen: Abbas, Bayard, Maylea … – und jetzt auch noch Keelin. Sie wusste, dass sie es nicht hatte verhindern können, und fühlte sich dennoch schuldig.
»Du musst heimkehren.« Keelin suchte ihren Blick, und seine Augen waren voller Wärme. »Sie warten auf dich.«
»Ich lasse dich nicht allein!« Ajana presste die Lippen fest zusammen. Sie wollte nicht an zu Hause denken – nicht jetzt. Niemals zuvor war ihr die Welt, aus der sie stammte, so fremd und unbedeutend erschienen wie in diesem Augenblick. Was dort geschah, war jetzt nicht wichtig. Alles, was zählte, was sie sich aus tiefstem Herzen wünschte, war, dass Keelin weiterlebte. »Ich bleibe bei dir!«, schwor sie mit Nachdruck. »Für immer!«
Das Licht wurde heller, als ein Sonnenstrahl von irgendwo jenseits des grauen Bahrtuchs aus Nebel bis auf den Waldboden vordrang. Der Chor der Vögel war verklungen. Keelin wurde unruhig und bewegte sich zuckend. Er musste große Schmerzen haben.
»Komm … näher!«, bat er mit dünner Stimme. Sein Blick irrte umher, als suche er nach ihr. »Wo … wo bist du?«
»Ich bin hier!« Ajana beugte sich vor. Tränen rannen über ihre Wangen, als sie ihn auf die fiebrige Stirn küsste. »Ich bin hier.«
Keelin bäumte sich auf, und seine Hand umklammerte ihre Finger mit ungeahnter Kraft. Dann erschlaffte er.
»Nein!« Ajanas gellender Aufschrei weckte die anderen.
Betroffen traten sie an das Lager des jungen Falkners, unfähig zu sprechen und hilflos in ihrer Trauer.
»Er wird es gut haben im Land der Ahnen.« Aileys kam zu ihr, kniete sich neben sie und legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter. »Er wird dort glücklich sein.«
Ajana
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