Das Erbe der Vryhh
Antwort.
»Der Junge spricht ziemlich gut Interlingua.«
»Er lernt schnell. Und er singt wie ein Engel, der er ganz gewiß nicht ist. Außerdem hat er einen enormen Appetit.«
»Ich verstehe. Tamris, bring Linfyar in die Küche und sieh zu, ob du etwas zu essen für ihn findest.«
Tamris rümpfte die Nase, griff aber nach der Hand des Jungen und ging mit ihm in die Küche. Linfyar gab ein verächtliches Pfeifen von sich, protestierte ansonsten aber nicht dagegen, abgeschoben zu werden. Er war entschlossen, Shadith nach Avosing zu begleiten, und wollte sie nicht verärgern.
Nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, sagte Shadith: »Es gibt da einige Dinge, die zu privat sind, als daß ich über sie sprechen sollte, doch andere … Die Bande zwischen Aleytys und Grey sind, nun, sehr kompliziert zu beschreiben. Sie bestehen nach wie vor. Als wir Ibex verließen, war Lee entschlossen, sich mit ihm zu einigen. Sie dachte daran, ein Baby von ihm zu bekommen und so weiter. Sie war aufgeregt und glücklich, als wir landeten.
Und dann kam die große Enttäuschung.« Shadith zupfte an einer Locke ihres Haares, runzelte die Stirn und sah auf den Boden. Nach einer Weile hob sie seufzend den Kopf. »Du glaubst, er ist tot.«
»Warum sollte demjenigen, der ihn aus dem Verkehr zog, daran gelegen sein, ihn am Leben zu erhalten? Ein toter oder lebendiger Grey - beide eignen sich gleich gut als Köder. Und ein toter Grey läßt sich leichter kontrollieren.«
»Kells Motivationen geben uns manchmal Rätsel auf.«
»Doch er ist bestimmt nicht so dumm wie verrückt.«
»Die Wahrscheinlichkeit mag nur gering sein, aber es wäre trotzdem denkbar, daß Grey noch am Leben ist. Kell findet Gefallen daran, Gefühle zu verletzen und zu quälen. Und er weiß, was Grey für Aleytys bedeutet. Ich hoffe, Grey genügt Kell als Zeitvertreib, bis er Lee erwischt und sich mit ihr vergnügen kann.« Shadith schauderte. »Gäbe es Lee nicht, wäre ich bereit, Grey den Tod zu wünschen.«
Haupt stieß sich von dem Sims ab und schritt durchs Zimmer, eine untersetzte und stämmige Gestalt, massiv wie ein Möbelstück.
»Bisher sind wir nur auf Spekulationen angewiesen«, sagte sie.
»Vielleicht gibt es gar keine Falle, weder einen teuflischen Plan noch einen wahnsinnigen Verschwörer. Möglicherweise ist er auf Schwierigkeiten gestoßen, die mit dem Auftrag zu tun haben.« Sie blieb an der Cha-Kanne, stehen, hob den Deckel an, ließ ihn wieder zurückfallen, ging weiter. »Es könnte sein, daß der Sikin Ajin schlauer und mächtiger ist, als wir aufgrund der Berichte annahmen.« Wieder blieb Haupt am Fenster stehen. »Es bewölkt sich.
Vermutlich beginnt es bald zu hageln. Die Pajungg lügen, daß sich die Balken biegen - was für unsere Kunden durchaus normal ist. In irgendeinem Punkt machen sie uns etwas vor. Vielleicht hat Ticutt etwas übersehen. Vielleicht ist er nicht vorsichtig genug gewesen.«
Sie trat vor Shadith. »Das könnte als Erklärung genügen - eine Reihe von Zufällen.«
»Möglich war’s.« Mit der Fingerspitze strich sich Shadith über das Brandmal auf ihrer Wange, die schorfige Narbenform eines Falken. »Kommt immer wieder vor. Diesmal jedoch glaube ich nicht daran. Nein, ich halte es für unmöglich. Kell steckt dahinter.«
»Ja.« Haupt drehte den Kopf und sah in Richtung Tür. »Vrithian. Wird sie zurückkehren?«
»Das kommt darauf an.«
»Auf Grey?«
»Einerseits. Und andererseits auf Vrithian.« Shadith wandte sich vom Kamin ab, streckte sich und hielt sich die Hand vor den Mund, als sie gähnte. »Ohahh, ich bin müde. All die Aufregung . .
. Weißt du, Canyli, Legenden halten oftmals Enttäuschungen bereit, wenn man sie näher untersucht. Und dieses Haus, das Land, die Pferde - das bedeutet viel für Lee. Darüber hinaus mag sie ihre Arbeit. Glaub ihr nicht, wenn sie darüber meckert. Du bist die beste Freundin, die sie seit vielen Jahren hat. Es fällt ihr sehr schwer, das alles aufzugeben. Es wäre auch dann der Fall, wenn Grey tatsächlich tot ist.«
»Ich nehme an, das alles spielt keine Rolle. Wir hängen von ihr ab, ganz gleich, wie sie sich entscheidet. Es ist eine Frage des Überlebens. Hast du Hunger?«
»Ich könnte einen ganzen Silberpelz verschlingen.« Shadith hielt auf die Tür zu.
»Das erinnert mich an etwas: Du solltest Lee die Wanderschaft in die Wildnis ausreden. Dafür ist die Jahreszeit denkbar schlecht.«
Haupt öffnete die Tür und winkte Shadith in Richtung der
Weitere Kostenlose Bücher