Das Erbe der Vryhh
Sorgen mit ihr zu teilen, die das Großziehen eines Kindes mit sich brachten, ja, o ja, hundertmal und mehr, ja. Ohne ihn …
Aleytys hatte genug von vaterlosen Söhnen und Töchtern. Nein, nein und nochmals nein - ein Gedanke voller Entschlossenheit, der sich im Rhythmus des Stiefelpochens wiederholte. Wenn Grey lebte, wenn er noch nicht den Tod gefunden hatte, wenn es Shadith gelang, ihn aus der Falle zu befreien, wenn er die Foltern Keils überstand, ohne sie, Aleytys, zu hassen - ja. Wenn sie jetzt von dem Samen Greys schwanger wurde, ohne zu wissen, ob er noch lebte oder bereits tot war - das kam einer Nekrophilie gleich, die alles nur noch schlimmer machte. Aleytys weinte, als sie weiterlief, und ihre glitzernden Tränen galten nicht nur dem Kind, das vielleicht nie geboren wurde, sondern auch seinem Vater, der höchstwahrscheinlich schon tot war.
Erinnerungen an die andere Wanderschaft. Das Schweigen war unerschütterlich. Eine gemeinsame Stille. Während der damaligen Nachtlager gab es Liebe, und manchmal hielt man sich in den Armen. Eine gute und erfüllte Zeit.
Aleytys’ Gedanken kamen nicht nur Ruhe. Ihr Körper hatte sich schon recht gut angepaßt, aber sie dachte zuviel, litt zuviel, war nach wie vor erfüllt von Kummer und Zorn. Das zweite Hügelgrab.
Lange Zeit blieb Aleytys neben dem Steinhaufen stehen, bevor sie den Kiesel auf die sanft geneigte Flanke warf, wobei sie sich überdeutlich an die Auseinandersetzung mit Grey vor ihrem Aufbruch nach Ibex erinnerte. Bei ihrer Rückkehr hatte sie gehofft, die Beziehung zu ihm neu festigen zu können, die Wunden heilen zu lassen, die sie sich gegenseitig zugefügt hatten. Aber es gab diese Chance nicht, die Möglichkeit, den angerichteten Schaden zu beheben. Jene Erkenntnis brannte wie eine nicht zu löschende Glut in der Magengrube Aleytys’. Keine Chance. Und wenn doch noch nicht alles vorbei war, so kam es ganz auf den Irrsinn Kells und seine Foltergelüste an. Die junge Frau blickte auf den Kiesel in der Mitte ihres Handschuhs und überlegte. Sollte sie hoffen, daß er noch lebte, obgleich das Qualen für ihn bedeutete, die sie sich nicht einmal vorzustellen vermochte? War irgendeine Art von Leben immer noch besser als der Tod? Shadith hatte sich aus freiem Willen für ein zeitlich begrenztes Leben und damit den Tod entschieden - obgleich sie unsterblich gewesen war. Was bedeutete das?
Aleytys warf den Stein aufs Grab und lief weiter.
Sie entsann sich an die üble Zeit nach dem zweiten Grab, damals, als sie zusammen mit Grey gelaufen war … Sie eilten in Einsamkeit dahin, auf sich selbst fixiert, auf das an Verzweiflung grenzende Bemühen, nicht den Verstand zu verlieren, während sie über endlose weiße Schneeflächen stürmten, durch sich niemals lichtenden grauen Nebel. Ein Eissturm überraschte sie und zwang sie dazu, irgendwo Unterschlupf zu suchen. Dunkle und düstere Tage verstrichen. Sie scheuerten sich gegenseitig die Nerven wund, bis sie laut hätten schreien können. Sie begannen damit, sich mit einer übertriebenen Höflichkeit zu begegnen, die noch mehr schmerzte als die schlimmste Beleidigung. Als das Unwetter vorbei war und sie sich wieder in den ewigen Dunst hinauswagten, empfanden sie eine solche Erleichterung, daß die plötzliche Bewegungsfreiheit und die Weite um sie herum ein in höchstem Maß intensives Glücksgefühl in ihnen entstehen ließ.
Es begann zu regnen. Ein Graupelschauer, nicht eisig, aber kalt genug, um die letzten Reste von Wärme aus Aleytys zu vertreiben
- und so beständig, daß sich der zuvor harte Boden unter ihr in eine trügerische Schlickmasse verwandelte. Tönerne Erde, feinkörnig, fast so glatt wie Eis, als er die Nässe des Regens aufnahm wodurch Aleytys nur noch langsam vorankam. Seltsam. Obwohl die Welt um sie herum grau und öde war, obwohl sie fror und völlig durchnäßt war und eine kalte und feuchtigkeitsgesättigte Luft atmete, die in ihren Lungen stach, obwohl ihre überanstrengten Muskeln schmerzten und sie auf dem schlüpfrigen Untergrund immer wieder ausrutschte - trotz all dieser Widrigkeiten verblaßte die aus Leid und Zorn bestehende Helligkeit in ihr, begann sich das aufzulösen, was sie bisher so belastet hatte.
Das Rudel Silberpelze war inzwischen größer und kühner
geworden. Aleytys roch den abstoßenden Geruch, der von den Tieren ausging. Sie konnte die Geschöpfe deutlich hören, das Schnaufen, ihr Heulen und Fauchen. Spät an jenem Nachmittag mußte sie zwei der Tiere
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