Das Erbe des Bösen
explosionsartig angewachsen zu sein.
Ingrid seufzte, ging die Heckenschere holen und kehrte in den Garten zurück. Sie schnitt an einem Rosenbusch, an dem Dutzende makelloser rosa Rosen prangten, die trockenen Zweige ab. Genau so einen Rosenbusch hatten sie im Garten ihrer elterlichen Villa in Schweden gehabt: die von Carl Stenberg veredelte »Rosa Poppius«. Als sie noch ein Mädchen war, hatte man ihr die Verantwortung für den Rosengarten übertragen.
Ingrid lächelte in sich hinein. »Pappa« war bis zu seinem Tod mit 96 Jahren stark geblieben. Nicht physisch, aber geistig. Seinerzeit hatte es Ingrid leidgetan, dass Rolf sich von seinem Schwiegervater nicht akzeptiert gefühlt hat. Doch Pappas Nörgelei an seinem Schwiegersohn hatte auf unangenehme Weise die Wahrheit ans Licht gebracht: Rolf war schwach.
Genau dieses Wort hatte Pappa benutzt: schwach.
Damals hatte Ingrid die Bemerkung als übertrieben, ja als schlicht und einfach falsch abgetan. Erst später hatte sich Pappas Diagnose über seinen Schwiegersohn als richtig erwiesen.
Wieder im Haus, ging Ingrid ins Schlafzimmer zurück, öffnete den Schrank und versicherte sich, dass die Kleider, die an der Stange hingen, den Griff an der Rückwand verdeckten. Oder sollte sie ihr Magazin komplett an einen anderen Ort verlegen? Aber wenn ja: wohin?
Allein der Gedanke daran löste Beklemmung in ihr aus, und sie beschloss, es zu vergessen. Hätte der Einbrecher über den Schrank Bescheid gewusst, hätte er auch ihn geöffnet und sich nicht damit zufriedengegeben, in dem kleinen Fach hinter dem |276| Bücherregal zu wühlen. Wer wollte sie bloßstellen? War hier eine Vereinigung am Werk, die Naziverbrecher jagte? Allein das Wort war widerlich. Sie war keine Naziverbrecherin. Sie war an den Maßnahmen der Nazis in keiner Weise beteiligt gewesen. Sie war einzig und allein ihren wissenschaftlichen Forschungen nachgegangen.
Ingrid lief ein Schauer über den Rücken. Sie konnte sehen, wie fremde Hände die Kuverts öffneten, die sie vor Jahrzehnten sorgfältig versiegelt hatte. Ob jemand versuchen wollte, sie zu erpressen? Das war geradezu ein tröstender Gedanke. Dann ließe sich vielleicht alles mit Geld regeln. Sie musste nur auf die Kontaktaufnahme warten. Morgen würde zum Glück der Installateur die Alarmanlage an dem neuen Fenster anschließen. Sollte dann noch mal jemand versuchen, durch das Fenster zu kommen . . . Plötzlich zuckte Ingrid zusammen.
Die Wunde an Katjas Finger . . . Ihre zudringlichen Fragen und das beleidigende Verhalten . . .
Natürlich! Mit einem Mal war Ingrid alles klar. War sie denn bislang blind gewesen?
Dieses finnische Miststück!
Die Unterlagen waren auf dem Ehebett in verschiedene Stapel sortiert. Katja hatte das Material aus Ingrids Geheimfach nach Sprache und Datum geordnet.
Sie saß auf einem Stuhl neben dem Bett und las ein Blatt mit deutschem Text, der Bluttests beschrieb, mit deren Hilfe man versucht hatte, die Rasse eines Menschen zu bestimmen. Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft totaler Unfug. Und woher stammten diese Blutproben eigentlich?
Neugierig sah sie sich auch die englischsprachigen Unterlagen an, auf deren oberem Rand »THE UNITED STATES ATOMIC ENERGY COMMISSION« stand. Neben dem Text war ein Stempel aufgedrückt: »CLASSIFIED« – geheim.
»Gib mir die Papiere«, sagte eine eiskalte Stimme.
Katja blickte erschrocken auf. Ingrid stand in der Schlafzimmertürr, |277| mit ausgestreckter Hand, und ging langsam auf Katja zu.
Katja rührte sich nicht. Die Kinder spielten im Garten, die Haustür war offen gewesen.
»Was gibt dir das Recht, das zu lesen?«, sagte Ingrid mit zitternder Stimme. »Mit welchem Recht brichst du in das Haus eines anderen Menschen ein und stiehlst dessen Eigentum?« Sie blieb vor dem Bett stehen und fing an, die Papierstapel an sich zu raffen.
Katja stand vom Stuhl auf, noch immer mit einem Teil der Unterlagen in der Hand. Verblüffend flink stürzte sich Ingrid auf sie, um ihr die Blätter zu entreißen. Katja gab sie nicht her. Plötzlich tauchten Emil und Olivia in der Tür auf und verfolgten irritiert und ängstlich die Auseinandersetzung zwischen ihrer Mutter und ihrer Großmutterr.
»Kinder, geht runter ins Wohnzimmer«, befahl Katja. »Sofort!«
Emil und Olivia rührten sich nicht von der Stelle, sie waren wie erstarrt und rissen die Augen auf.
Mit der ganzen Kraft ihrer Wut zerrte Ingrid an den Papieren und spuckte ihrer Schwiegertochter ins Gesicht. Katja war
Weitere Kostenlose Bücher