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Das Erbe des Bösen

Das Erbe des Bösen

Titel: Das Erbe des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ihrer Karriere immer später Kinder bekamen und deren durchschnittliche Kinderzahl immer kleiner wurde. Und so wie der Rabe leicht das Aas findet, so schlug die Marktwirtschaft ihre Klauen in den ungebildeten, schlechter über die Runden kommenden Teil des Volkes: hirnlose Unterhaltung auf immer mehr Digitalkanälen, Bier, gefärbtes Zuckerwasser und süchtig machendes Junkfood. Irgendwann würde das ganze Gesundheitssystem unter dem Übergewicht all dieser Menschen zusammenbrechen. Ingrid seufzte.
    |271| Sie wusste schon lange, dass nicht die Klimaveränderung die schlimmste Bedrohung der Menschheit darstellte, sondern die Veränderung des Menschen selbst, seine Degenerierung. In wenigen hundert Jahren wäre das Spiel endgültig verloren, wenn die Dominanz der Biomassen über die rationale Funktionalität der Gesellschaft hinwegrollte. Ingrid sah das einigermaßen pessimistisch. Gegen die Klimaveränderung wurde aktiv vorgegangen, es wäre verwerflich, nichts dagegen zu unternehmen. Aber in die Selbstzerstörung des Menschen durfte man nicht eingreifen, das wurde strikt verurteilt. Trotzdem waren beide Veränderungen vom Menschen verursacht, sogar die Grundursache war dieselbe: In einer immer reicheren Gesellschaft waren die Menschen zu kurzsichtig auf ihren eigenen Wohlstand bedacht.
    Aber bestand nicht noch Hoffnung, falls die Vernunft über die Gefühle siegte?, fragte Ingrid sich immer wieder. Die Entwicklung der Spezies Mensch würde womöglich doch nicht zwingend in die Sackgasse geraten, wenn man Wissenschaftlern die Möglichkeit gäbe, hilfreich einzugreifen. Der Begriff »Rassenveredelung« war natürlich verpönt, und das war auch gut so, denn er war mit der Eugenik verknüpft. Es war ein großer Fehler gewesen, zu glauben, die Intelligenz korrelierte mit der Rasse. Das wusste Ingrid inzwischen. Und ein noch schlimmerer Fehler war der Versuch gewesen, bereits geborene schwache Individuen auszusondern oder ihre Vermehrung zu verhindern.
    Die Lösung lag in Ingrids Augen vielmehr in der positiven Eugenik, aus der die moderne Genetik zum großen Teil bestand. Das menschliche Genom war entschlüsselt, und man hatte zum Beispiel glücklicherweise das Gen für Fettleibigkeit entdeckt. Es mussten nur noch geeignete Maßnahmen ergriffen werden, aber je mehr die Ausgaben der Volkswirtschaften wuchsen, umso größer wurde die Bereitschaft, einzugreifen. Ingrid wurde in ihren Gedanken unterbrochen.
    »So, die Dame, jetzt haben Sie Ihr neues Fenster«, sagte der manierlichere der beiden Glaser.
    |272| Ingrid bedankte sich höflich und zahlte bar. Das Fahrzeug der Glasereifirma fuhr rückwärts aus der Einfahrt, und Ingrid blieb allein neben einem Hortensienstrauch stehen. Nervös brach sie einen trockenen Zweig ab und ging dann zu dem reparierten Fenster, um zu überprüfen, ob die Männer es auch richtig geschlossen hatten.
    In ihren Gedanken kreisten hartnäckig dieselben Fragen: Warum hatte der Einbrecher nur alte Papiere mitgenommen, warum keine Wertgegenstände? Woher wusste der Einbrecher überhaupt, wo sich das Geheimfach befand?
    Auch die unschönste aller Varianten lauerte im Hinterkopf, denn: Konnte es wirklich Zufall sein, dass Katja ihr gerade jetzt mit einer solchen Andeutung gekommen war?
    Natürlich war es ein Zufall. Als intelligenter Mensch hatte Katja einfach registriert, dass ihre Schwiegermutter nicht die Polizei rufen wollte, obwohl sie den Diebstahl einiger Kleinigkeiten zugegeben hatte.
    Ingrid hätte gern mit jemandem über alles geredet, aber es gab niemanden, mit dem das möglich gewesen wäre. Sie war es leid, ihre Geheimnisse alleine mit sich herumzutragen. Dieses Schweigen über die Vergangenheit war das Schwerste in ihrem ganzen Leben gewesen, jedenfalls seit der Scheidung von Rolf. In Amerika war es ihnen in materieller Hinsicht gut gegangen, aber die Gespenster der Vergangenheit hatten schließlich alles kaputt gemacht.
    Manchmal hatte Ingrid sich gefragt, ob die Scheidung nicht doch ein Fehler gewesen war. Hätte sie ihre Enttäuschung schlucken müssen, hätte sie schweigen und das Zusammenleben fortsetzen sollen?
    Natürlich nicht. Die Enthüllung von Rolfs wahrer Natur war ein Schock gewesen, von dem sie sich nie wieder richtig erholt hatte. Wenn man einen Menschen fast dreißig Jahre kennt, wenn man glaubt, ihn durch und durch zu kennen, und dann feststellen muss, dass man von diesem Menschen auf die schlimmstmögliche Art betrogen worden ist . . .
    |273| Es war die blanke Ironie,

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