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Das Erbe des Bösen

Das Erbe des Bösen

Titel: Das Erbe des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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mit welcher Geschwindigkeit das Plutonium genannte »Element-94« und das Uran-Isotop 235 sich im menschlichen Körper verbreiteten, in welchen Körperteilen sie sich ablagerten und welche gesundheitlichen Folgen die Belastung mit sich brachte.
    Ingrid war an einem Versuch beteiligt, der von dem geheimen, an der Universität Rochester angesiedelten Manhattan-Projekt aus geleitet wurde. Im Strong-Memorial-Krankenhaus wurden elf Patienten durchschnittlich fünf Mikrogramm Plutonium in den Blutkreislauf gespritzt. Die Menge war fünf Mal höher als der Grenzwert, den man als ungefährlich für den Menschen einstufte. Man hatte zum Beispiel festgestellt, dass ein oder zwei Mikrogramm Radium fatale Folgen für Arbeiter hatten, die beruflich |294| phosphoreszierende Zifferblätter auf Uhren malten. Aber im Gegensatz zu Radium sandte Plutonium keine Gammastrahlen aus, weshalb man es nicht mit dem Geigerzähler messen konnte.
    Die Probanden wussten nichts von den Plutoniumspritzen. Ingrid erinnerte sich noch gut an Janet Stadt, die blasse, magere Frau, die an einer chronischen Hautkrankheit litt. Janet war Versuchsperson »HP-8«. HP für »Human Product«. Die meisten anderen waren Männer, viele von ihnen Schwarze.
    Das Plutonium reicherte sich in der Leber und in den Knochen der Versuchspersonen an, und das Schlimmste war, dass die Teilchen, die Alphastrahlung aussandten, das empfindliche Rückenmark bombardieren konnten. Die Versuchspersonen waren bereits krank gewesen, aber damit der Versuch gelingen konnte, hatten alle über eine möglichst normale Nieren- und Leberfunktion verfügen müssen. Als Ingrid die Urin-, Stuhl-, Blut- und weitere Proben in Holzkisten verpackte, damit sie nach Los Alamos transportiert werden konnten, waren ihr die Präparatkisten, die nur ein Jahr zuvor von Auschwitz nach Dahlem gekommen waren, wieder eingefallen.
    Ingrid war auch dabei gewesen, als der Bericht über die Versuchsreihe erstellt wurde. Er erhielt den Titel ›Transport und Absonderung von intravenös verabreichtem Plutonium im Organismus‹. Selbstverständlich wurde der Bericht als geheim eingestuft, dennoch war sie zufrieden, dass darin nur die Namen der Versuchsleiter Wright Langham und Samuel Bassett genannt wurden.
    Bei der Fortsetzung der Versuche in Chicago wurde die Plutoniumdosis auf fünfundneunzig Mikrogramm erhöht, was fast hundert Mal mehr war als der für ungefährlich erachtete Grenzwert. Unter den Versuchspersonen waren nun auch drei Kinder. Ingrid hätte nicht geglaubt, dass die Amerikaner ethisch derart fragwürdige Versuche durchführten, verstand aber den Druck, der auf der Staatsführung lag: die Herstellung von Atombomben in größerem Ausmaß wurde rasch vorangetrieben, darum war es notwendig herauszufinden, welche Gesundheitsrisiken den Arbeitskräften |295| drohten, nicht zuletzt um späteren Schadensersatzprozessen vorzubeugen. Ganz zu schweigen davon, dass man genau wissen musste, was passierte, wenn Atomwaffen zum Einsatz kamen.
    Rolf hatte seine Arbeit der Entwicklung von Raketen mit Kernsprengkopf schwer belastet. Erst nach Hiroshima und Nagasaki hatte er die Konsequenzen seines Tuns so recht begriffen. Ingrid hatte ihm zu erklären versucht, dass Louis Pasteur bei der Entwicklung des Penicillins auch Menschenversuche vorgenommen hatte. Walter Reed hatte bei seiner Arbeit an dem Impfstofff gegen Gelbfieber mehrere Probanden getötet, aber somit Tausenden das Leben gerettet und den Bau des Panamakanals ermöglicht.
    Doch diese Argumente ließ Rolf nicht gelten. Die Doppelmoral der Amerikaner hatte ihn ein für alle Mal den Glauben an die Glückseligkeit der »freien Welt« verlieren lassen.
    Ingrid hingegen fühlte sich in ihrer neuen Heimat ausgesprochen wohl. Sie traf dort andere Eugeniker, die sich inzwischen Genetiker nannten. Über alte Kontakte und einige Strahlenforscher konnte sie an einem Projekt der
Vanderbilt-Universität
in Nashville teilnehmen. Die gute alte
Rockefeller-Stiftung
finanzierte den umfassenden, im Herbst 1945 begonnenen Versuch: Mehr als achthundert schwangeren Frauen wurde in Mütterberatungsstellen eine »Nährlösung« eingeflößt, von der die Mütter glaubten, sie sei ihrer Gesundheit und der ihres Babys zuträglich. In Wirklichkeit enthielt das Getränk radioaktives Eisen, das innerhalb einer Stunde nach der Einnahme über den Kreislauf der Mutter auch im Blutkreislauf des Fötus landete. Bei der späteren Kontrolle wurde den Müttern Blut entnommen, um Aufschluss

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