Das Erbe des Bösen
über die Endosmose zu gewinnen. Ein Teil der geborenen Kinder erkrankte im Alter von wenigen Jahren an Krebsleiden, die in der Vergleichsgruppe nicht festgestellt wurden.
Durch ihre alten Kontakte zu Eugenikern erfuhr Ingrid auch von einer sehr umstrittenen Untersuchung in der Fernald-Schule, einer Einrichtung für schwach begabte Jungen, die bereits in |296| den Zwanzigerjahren Objekt der besonderen Aufmerksamkeit von Eugenikern gewesen war. 1946 wurde dort mit einer Jahre andauernden Versuchsreihe begonnen, bei der sich Wissenschaftler des
Massachusetts Institute of Technology
das Vertrauen von verstoßenen, einsamen Jungen erschlichen, indem sie für sie einen »Wissenschaftsclub« gründeten. Vierundsiebzig Jungen bekamen eine Mickymaus-Uhr und andere Geschenke und durften Baseballspiele besuchen, als Belohnung dafür, dass sie jeden Morgen auf besondere Weise zubereitete Haferflocken aßen. Die Jungen freundeten sich mit den Leitern des »Wissenschaftsclubs« an und wussten nicht, dass ihr Frühstück radioaktive Isotopen enthielt, deren Absorbtion mit regelmäßigen Bluttests gemessen wurde.
Ingrid war entsetzt gewesen über den Missbrauch gutgläubiger Kinder als Versuchspersonen. Sie konnte es bis heute nicht fassen. Sie legte die Kuverts zu Seite und überlegte, was sie Erik sagen sollte. Es war klar, dass Katja genug gesehen hatte, um sie beide in Aufruhr zu versetzen.
Erik ging hinter Schneider die steilen Stufen des Hörsaals hinunter. Durch die großen Fenster sah er die abendlich beleuchteten, kastenförmigen Bauten auf dem Campus der Berliner Technischen Universität. Schneider hatte Erik angerufen und das Treffen an diesem Ort vorgeschlagen.
Sie schoben sich an den Studenten vorbei, die gerade die Vorlesung verließen, zu dem Mann im abgetragenen Anzug, der am Pult vor der Tafel seine Unterlagen in die Aktentasche packte.
»Professor Zweiger?«, fragte Schneider.
Der drehte sich um und nickte. Erik und der Mann vom BKA stellten sich vor.
»Ich komme direkt zur Sache«, sagte Schneider. »Sie sind in Deutschland einer der führenden Kenner der Geschichte der Kernphysik. Wie ich Ihnen am Telefon schon sagte, möchten wir Ihre Meinung zu einigen Tagebucheintragungen hören.«
Schneider nahm das Material zur Hand, das er von Erik erhalten |297| hatte. »Diese Unterlagen sind in unserem Labor schon einmal provisorisch untersucht worden. Vorläufig deutet nichts darauf, hin, dass sie, zumindest was das Alter betrifft, nicht echt wären. Herr Narva kann Ihnen kurz erzählen, wem sie gehörten.«
»Kennen Sie den Atomphysiker Hans Plögger?«, fragte Erik. »Er hat nach dem Krieg bei Siemens gearbeitet.«
»Von einem Plögger habe ich noch nichts gelesen, aber das hat nichts zu bedeuten. Gegen Ende des Krieges wurde eine große Zahl von Akten, die mit der Uranforschung zu tun hatten, vernichtet, sofern sie nicht schon bei den Bombenangriffen verbrannt waren. Nur die führenden Wissenschaftler sind uns heute bekannt.«
»Doktor Plögger war ein Kollege meines Vaters . . . Ich habe erst jetzt erfahren, dass mein Vater Rolf Narva während des Krieges als Physiker hier in Berlin gearbeitet hat. Dieser Name sagt Ihnen auch nichts?«
Der Professor sah Erik interessiert an und breitete dann die Arme aus. »Ich bedaure.«
Er nahm eine Lesebrille aus der Brusttasche und begann, das Material zu studieren.
»Doktor Plögger beschreibt in den Tagebuchaufzeichnungen seine Tätigkeit während des Krieges«, sagte Schneider. »Er nennt konkrete Details, unter anderem zum Bau eines Versuchsreaktors in Dahlem, in der Versuchsstelle Gottow bei Kummersdorf und später in Stadtilm.«
Der Professor las die Aufzeichnungen konzentriert und murmelte: »Interessant . . . Wir wissen nur wenig über Hitlers Uranprogramm. Gerade erst sind in Moskauer Archiven Informationen aufgetaucht, auf deren Grundlage man durchaus schließen kann, dass man damals weiter gekommen war, als wir bislang geglaubt haben. Und gerade dieser Kurt Mayer, von dem auch hier die Rede ist, erreichte wesentlich mehr als Heisenbergs Forschungsgruppe, die mehr Publizität erfahren hat.«
»Hier wird auch detailliert über die Anreicherung von Uran berichtet«, sagte Schneider. »Könnten solche Informationen heute |298| noch Schaden anrichten, wenn sie in falsche Hände gelangten?«
»Das kann ich mir kaum vorstellen. Die Anreicherung von waffenfähigem Uran war der größte Stolperstein des Uranprogramms im Zweiten Weltkrieg. Die damaligen
Weitere Kostenlose Bücher