Das Erbe des Bösen
nahm den Zettel zur Hand, auf dem er Hoffmanns Nummer notiert hatte. Natürlich glaubte er nicht einen Moment daran, dass »Hoffmann« der richtige Name des Mannes war.
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Rolf saß in einem Taxi, das in Lichtenrade auf einer kleinen, kurvenreichen Straße durch den Laubwald fuhr. Den Zettel mit Katharinas Adresse hielt er in der Hand. Es war kurz vor zehn, in einer Viertelstunde würde Hoffmann ihn vor dem Hotel Kurfürstendamm erwarten.
Sollte er nur warten.
Die überraschende und seltsame Entwicklung hatte Rolfs Sinne und Gedanken geschärft. Der Anruf bei Hans’ Bruder war wie die Kontaktaufnahme mit einer anderen Welt gewesen: der Welt der Vergangenheit. Hans’ Tod hatte Rolf berührt, obwohl er Hans seit Jahren nicht gesehen hatte. Der schöne Berliner, wie ihn neidische Freunde und Widersacher genannt hatten, war Rolfs erster richtiger Freund in Deutschland gewesen. Ein Freund, mit dem er acht Jahre lang mehr geteilt hatte, als sich irgendein Mensch auf der Welt vorstellen konnte.
Der erste Herbst in Berlin hatte Rolf geradezu in einen Rausch versetzt. Wissenschaft und Technik blühten, der Geist der Zeit war an glatten, geraden Autobahnen und der klaren Linienführung von Olympiastadion und Flughafen Tempelhof ablesbar. Zu Rolfs besonderer Freude herrschte im Land eine große Begeisterung für Raketen und Raumfahrt, ausgelöst durch den Science-fiction-Film ›Frau im Mond‹ von Fritz Lang. Das Heer hatte in Peenemünde ein riesiges Raketenentwicklungszentrum gegründet, mit Labors, Windkanälen und Abschussrampen. Fritz von Opel veranstaltete Vorstellungen für das Volk, bei denen alle möglichen Fahrzeuge von der Straßenbahn bis zum Schlitten mit Hilfe von Raketen in Schwung gebracht wurden. Und Rolf |24| hatte sogar Raketenliebhaber aus dem »Verein für Raumschifffahrt« kennengelernt.
Das Großartigste für ihn war jedoch sein Erfolg im Studium. Rolf konnte sich noch immer an das Gefühl erinnern, von dem er durch und durch erfüllt war, als er an einem regnerischen Herbsttag des Jahres 1938 mit Hans im Zimmer von Professor Reitiger stand. Der nüchterne, unspektakuläre Vorgang war die Wasserscheide in Rolfs Leben gewesen. Das erste Studienjahr hatte er mit Bravour absolviert, das wusste er selbst. Aber erst im Zimmer des Professors war ihm bewusst geworden, dass er tatsächlich zu der kleinen Elite zählte, die aus der Masse der Studenten ausgesiebt worden war. Sie, die Besten, setzten ihre eigenen Untersuchungen fort und wurden dabei von den erfahrensten Professoren angeleitet.
Ihr Alter – oder genauer gesagt ihre Jugend – war dabei gar nicht entscheidend. Was zählte, war der Funke zwischen den Ohren. Werner Heisenberg, der Halbgott aller Physiker, war erst einundzwanzig Jahre alt gewesen, als er Anfang der Zwanzigerjahre in Göttingen Bekanntschaft mit Niels Bohr schloss. Bohr war eingeladen worden, eine Vorlesung zu halten. Er war fast vierzig und berühmt wegen seiner Forschungen zum Aufbau des Atoms, Heisenberg hingegen nur ein vielversprechender Student. Dennoch entspann sich zwischen ihnen eine Freundschaft, da Bohr die Begabung des jungen Heisenberg erkannte.
In gleicher Weise, schien Rolf, war auch seine Begabung erkannt worden. Aber mindestens so zufrieden wie mit seinem Fortkommen im Studium war er mit dem Studentenleben. Der Berliner Vorort Dahlem war das »Oxford Deutschlands«, Wiege der Spitzenforschung und Campus ehrgeiziger junger Wissenschaftler. Rolf hatte Hans’ ehemalige Klassenkameradin Katharina kennengelernt, die dort Medizin studierte. Sie hatte schüchtern und still gewirkt, stammte aus bescheidenen Verhältnissen und war in Rolfs Augen schön wie ein Engel: warme, braune Augen, Grübchen, wenn sie lächelte. Und sie lächelte oft, vor allem, wenn sie Rolf sah. Das verwirrte den jungen Mann zunächst und |25| brachte ihn mehr als einmal zum Erröten, auch wenn Katharina ihrerseits ganz und gar arglos war.
Ihre schwedische Kommilitonin und Zimmernachbarin Ingrid hingegen . . . Nun ja, Ingrid war ein Fall für sich. Anfangs fiel es Rolf schwer, sich auch nur einzugestehen, dass ihm die Schwedin gefiel, denn sie hatte so vieles an sich, was ihm fremd war. Ingrid Stormare: ein blondes, lebenslustiges Mädchen, das es direkt aus den vornehmsten Stockholmer Kreisen nach Berlin verschlagen hatte. So hatte Rolf zunächst gedacht. Ingrids Vater war Fabrikant gewesen und hatte einer der zahlreichen, bis aufs Blut zerstrittenen nationalistischen Parteien Schwedens
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