Das Erbe des Bösen
mischte sich plötzlich der Klingelton seines Handys. Rolf meldete sich nicht. Der Ton wurde immer lauter, und parallel dazu wuchs Rolfs Unmut. Das war bestimmt wieder Erik. Konnte ihn der Junge nicht mal einen Moment in Ruhe lassen?
Die Schwester blieb vor einer der grauen Türen stehen und suchte nach dem passenden Schlüssel. Das Handy war inzwischen wieder verstummt.
»Warum ist die Tür abgeschlossen?«, flüsterte Rolf.
Die Frau antwortete nicht.
Sie fand den Schlüssel und sperrte auf. Unsicher betrat Rolf den hohen Raum. Darin war es durch die dichten Eichen vor dem Fenster ziemlich dunkel. Die altmodische Lampe auf dem Nachttisch verbreitete ein gelbliches Licht. Das Bett war leer, die abgewetzte, geblümte Tagesdecke faltenlos glatt gezogen.
|28| In der Ecke, am Rand des Lichtkreises, stand ein Sessel, der an den Nähten ganz ausgefranst war. Rolfs Augen jedoch starrten gebannt auf das Wesen, das da im Sessel saß. Kaltes Entsetzen durchfuhr ihn.
Das Gesicht der Frau erinnerte an einen Totenschädel, der nur noch mit einer dünnen Hautschicht bespannt war. Auf der mit Leberflecken gesprenkelten Kopfhaut wuchsen hier und da noch ein paar Haarbüschel. Langsam drehte die Frau den Kopf in Rolfs Richtung, und das gelbe Licht fiel auf ihr Gesicht. Die Augen lagen tief in den Höhlen, und sie schauten Rolf geradewegs an: matte, braune Augen.
Katharinas Augen.
Mit aller Kraft versuchte Rolf, seine Erschütterung zu verbergen. Er machte einen vorsichtigen Schritt auf den Sessel zu. Katharina fixierte ihn konzentriert und hob langsam die rechte Hand. Ihre Finger waren dünn und steif.
»Rolf . . . Um Himmels willen . . . Was ist passiert?«, fragte ihre überraschend kräftige Stimme. »Haben sie dich doch erwischt?«, fuhr sie fort, wobei sie die Stimme zum Flüstern senkte. »Was haben sie mit dir gemacht? Du siehst fürchterlich aus.«
Abrupt sah Katharina zur Tür. »Sind sie hinter dir her?«
»Nein, Katharina . . .«
»Während der ganzen Fahrt von München hierher habe ich solche Angst gehabt . . .«, sagte sie mit zitternder Stimme.
Rolf beugte sich vorsichtig zu ihr hinunter, um sie zu umarmen. Er hatte einen Kloß im Hals. Katharina hatte ihn sofort erkannt. Sie wirkte zerbrechlich, zugleich aber auch zäh, wie ein Vogel. Rolf war zutiefst erschüttert – zu lebhaft erinnerte er sich noch daran, wie er Katharina das letzte Mal umarmt hatte. Damals war sie eine starke, gesunde Frau gewesen.
Dünne, kühle Finger umfassten Rolfs Kopf und führten ihn an Katharinas Wange. Sie roch nach Seife. Rolf spürte ihre Haut und blieb gebeugt stehen, obwohl ihm der Rücken so wehtat.
»Wovor hattest du Angst, Katharina?«, flüsterte er.
|29| Sie rührte sich nicht und hielt Rolf fest umklammert.
»Ach, Rolf«, seufzte sie gequält.
Rolf versuchte sich ihrem Griff zu entziehen, aber ihre Hände waren überraschend kräftig.
»Ach Rolf . . .«, sagte sie noch einmal, leise und ganz heiser, und ließ schließlich los. »Ich hatte schwere Wochen in München. Schrecklich viel Arbeit. Doktor Strughold verlangt sehr viel.«
Langsam ging Rolf zu dem Sessel, der Katharina gegenüber stand. Er befürchtete, den Aufruhr seiner Gefühle nicht verbergen zu können. Auch wenn Katharina wohl kaum etwas davon merken dürfte.
»Der Luftkrieg wird unsere Niederlage besiegeln«, fuhr Katharina mit wachsender Erregung fort. »Göring setzt alle unter Druck, damit neue Mittel zur Verringerung der Verluste gefunden werden. Die Wissenschaft soll helfen. Wir Wissenschaftler sind jetzt in der Pflicht.«
Auf einmal war Rolf von eisiger Gewissheit erfüllt. Katharina konnte ihm auf keinen Fall einen Brief nach Helsinki geschickt haben. Das musste jemand anderes getan haben.
Katharina beugte sich nach vorn und flüsterte beunruhigt: »In welcher Höhe können die Piloten der Luftwaffe noch überleben? Was warnt den Flieger davor, dass die Luft zu dünn wird und die Gefahr besteht, das Bewusstsein zu verlieren?«
Rolf hörte nur zwei Fragen in seinem Kopf hämmern: Wer hatte ihm diese Briefe geschickt? Und warum?
»Wir wissen es jetzt.« Katharina sah ihm in die Augen, auf einmal wesentlich ruhiger als zuvor. »Die Tabelle ist letzte Woche fertig geworden. Sie liegt bei Doktor Strughold, die Tabelle. Wir haben dafür neunhundertvierundsechzig Spalten ausgefüllt. Eindeutige Zahlen auf Karteikarten. Die Wissenschaft ist unbestechlich. Eine Tabelle ist von uns erwartet worden, und eine Tabelle haben wir erstellt.«
Oder
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