Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Erbe des Vaters

Das Erbe des Vaters

Titel: Das Erbe des Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
Vom Netzwerk:
ging, streckte sie die steifen Glieder und lauschte. Diesmal waren es zwei Autos. Sie hockte sich auf die Knie und drückte das Auge an das Astloch. In dem kleinen Kreis diffusen Lichts sah sie ihren Vater, der immer noch am Fenster stand und in den Garten hinunterblickte. Sie versuchte, ihre schmerzenden Knie zu entlasten und eine bequemere Stellung zu finden. In dem Schrank war es so eng wie in der Kirche, wenn man eingequetscht im Kirchenstuhl auf einem der schmalen Samtkissen kniete. Sie ging nicht regelmäßig zur Kirche wie die anderen Kinder. Sie wußte nicht, wie man sich dort richtig verhielt, und war jedesmal, wenn sie mit ihrer Klasse in langer Schlange vom Schulgebäude zur Dorfkirche marschierte, überzeugt, sie würde sich blamieren.
    Ihr machte es ja nichts aus, wenn die anderen sie auslachten, sie wußte, sich zu wehren; aber Miss Pinner war mit dem Rohrstock schnell bei der Hand und machte keinen Unterschied zwischen Jungen und Mädchen, wenn sie Tatzen verteilte. Und wenn dann ihr Vater davon erfuhr, rannte er schnurstracks zur Schule, um Miss Pinner seine Meinung zu sagen, und ein paar von den Mädchen – die, von denen die Väter Geschäfte hatten und keine Bauern waren, die, welche wie Annie Paynter immer gebügelte Baumwollkleider anhatten und das Haar in Locken trugen –, die verspotteten ihn dann. Weil er seinen Mantel mit einer Schnur band statt mit einem Gürtel, wegen seiner Sprache und wegen dem, was er sagte.
    Plötzlich erschallte eine Stimme, so laut, daß Romy zusammenfuhr. »Mr. Cole, hier spricht die Polizei.« Die Stimme hatte einen metallischen, dumpfen Klang, als käme sie aus dem Rachen eines großen mechanischen Ungeheuers. Sie machte Romy angst.
    Ihr Vater riß das Fester auf. »Runter von meinem Grund und Boden!«
    »Kommen Sie raus, Sam Cole! Lassen Sie uns friedlich miteinander reden.«
    »Es gibt nichts zu reden. Keiner nimmt mir meinen Hof weg.«
    »Es ist nicht mehr Ihr Hof«, rief Mark Paynter zum Fenster hinauf. »Er gehört dem Kreiskriegs-«
    »Verschwinden Sie! Und lassen Sie sich nicht wieder hier blicken.«
    »Jetzt hat die Polizei hier das Wort«, dröhnte die metallische Stimme.
    »Diese Leute wollen mir und meiner Familie das Zuhause nehmen«, rief Sam Cole. »Um die sollten Sie sich kümmern. Das sind Diebe! Sie wollen einem Mann seine Arbeit nehmen und seine Familie auf die Straße setzen.«
    »Hören Sie jetzt auf, uns Schwierigkeiten zu machen, Sam. Wenn Sie vernünftig sind und friedlich runterkommen, können wir vielleicht vergessen, daß Sie von einer Schußwaffe Gebrauch gemacht haben.«
    Durch das Astloch sah Romy, wie ihr Vater zwei Patronen aus seiner Tasche nahm und sie in den Lauf schob.
    »Ich verlasse mein Haus nicht.«
    »Los, kommen Sie runter, Cole, dann können wir das klären.«
    Es blieb einen Moment still, dann sagte Sam Cole: »Das hier ist mein Zuhause. Das hier ist mein Land.« Seine Stimme hatte sich verändert, sie klang gepreßt und müde. »Middlemere wird jetzt seit fast vierzig Jahren von meiner Familie bewirtschaftet. Keiner nimmt es mir weg. Sie nicht, Mark Paynter, und genausowenig irgendein verdammter Ausschuß oder Polizist. Bilden Sie sich bloß nicht ein, daß ich das Gewehr nicht benutze! Dieses Haus bekommen Sie nur über meine Leiche.«
    Romy mußte an die Woche von Maisies Tod denken, als sie ihren Vater hörte. »Und da soll man noch an einen Gott glauben?« hatte ihr Vater gesagt, als sie nach dem Begräbnis den Friedhof verlassen hatten. Wenn er kleine Babys einfach so sterben läßt? Und er hatte furchtbar müde ausgesehen, viel müder als selbst nach dem längsten Tag auf dem Feld; müde und bleich, die große, kräftige Gestalt wie geschrumpft.
    »Mr. Cole –«
    Das Gewehr schlug krachend auf das Fensterbrett. Die metallische Stimme schwieg. Romy sah, daß die Stirn ihres Vaters trotz der Kälte von Schweiß bedeckt war. Die Hände, die das Gewehr umfaßt hielten, zitterten. Der Drang, zu ihm zu laufen, war beinahe unwiderstehlich. Er würde bestimmt nicht böse sein. Nicht richtig böse auf jeden Fall. Er wurde nie so böse, daß er ihr eine runterhaute. Mam haute ihr manchmal eine runter, aber Dad nie. Er brüllte sie vielleicht an, aber daran hatte sie sich längst gewöhnt.
    Doch wenn er merkte, daß sie im Haus war, würde er sie rausschicken, in die Schule, das wußte sie. Und halb wünschte sie sogar, sie wäre in der Schule und säße sicher und gelangweilt über ihrer Handarbeit. Aber wie sollte sie

Weitere Kostenlose Bücher