Das Erbe des Zauberers
als sie sich zur Tür durchgruben und den Schlüssel ins Schloß schoben.
Die große Küche begegnete ihnen mit Dunkelheit und Kühle, und es roch dort nur nach Schnee. In solchen Zimmern war es natürlich immer dunkel, aber normalerweise sollte im breiten Kamin ein großes Feuer brennen und den blubbernden Inhalt eines großen Kessels erhitzen. Esk hatte keine Ahnung, was Hexen immerzu kochten, aber sie wußte vom Hörensagen, daß man von den Dünsten Kopfschmerzen bekam oder plötzlich seltsame Dinge sah.
Voller Unbehagen wanderten sie umher und riefen mehrmals Grannys Namen, bis Esk schließlich entschied, daß sie es nicht länger vermeiden konnten, den ersten Stock aufzusuchen. Die Klinke der Tür, die ins Treppenhaus führte, quietschte lauter als gewöhnlich.
Oma Wetterwachs lag mit verschränkten Armen auf dem Bett. Das kleine Fenster stand offen, und pulvriger Schnee formte eine weiße Patina, die bis zur Matratze reichte.
Esk starrte auf die Flickendecke unter der alten Frau, und von einem Augenblick zum anderen schien sie in die Breite zu wachsen und ihr ganzes Blickfeld auszufüllen. Wie aus weiter Ferne hörte sie Cerns Schrei. Ihre Gedanken kehrten in die Vergangenheit zurück, und sie entsann sich daran, wie Vater Schmied diese Decke angefertigt hatte, vor zwei Wintern, als der Schnee fast ebenso hoch lag und es in der Werkstatt nicht viel zu tun gab. Sie beobachtete ihn dabei, wie er alle jene Stoffetzen verwendete, die es durch irgendeine Laune des Schicksals nach Blödes Kaff verschlug, zum Beispiel Seide, Dilemmaleder, Wasserwolle und Thargaleinen. Da man mit einem Schmiedehammer nicht besonders gut nähen konnte, bestand das Ergebnis aus einem unansehnlichen Etwas, das kaum wie eine Steppdecke aussah, sondern eher einer flachen Schildkröte ähnelte. Woraufhin Esks Mutter weise beschloß, Oma Wetterwachs ein großzügiges Geschenk zu machen …
»Ist sie tot?«
Gulta wandte sich an Eskarina, als sei seine Schwester eine Expertin auf diesem Gebiet.
Esk starrte auf die Hexe hinab. Ihr Gesicht war eingefallen und grau, und die reglose Brust deutete darauf hin, daß sie das Atmen für unnötig und lästig hielt. Traf diese Beschreibung auf Tote zu?
Gulta straffte tapfer die Schultern.
»Wir sollten gehen und jemandem Bescheid geben«, brachte er heiser hervor. »Und ich schlage vor, wir machen uns unverzüglich auf den Weg, denn es wird bald dunkel.«
Er holte tief Luft und fügte hinzu: »Aber Cern bleibt hier.«
Sein Bruder sah ihn entsetzt an. »Warum?«, fragte er entgeistert.
»Jemand muß Totenwache halten«, erklärte Gulta klug. »Erinnerst du dich? Als der alte Onkel Derghart starb, hockte Vater die ganze Nacht im Kerzenschein an seinem Bett. Wenn man eine Leiche einfach im Stich läßt, kommt irgend etwas Gräßliches, raubt einem die Seele und bringt sie … irgendwohin«, fügte er unsicher hinzu. »Und dann ist man verhext. Ich meine: Dann spukt es dauernd, und …«
Er brach ab.
Cern öffnete den Mund, um noch einmal zu schreien.
»Ich bleibe«, warf Eskarina hastig ein. »Es macht mir nichts aus. Ist doch nur die alte Granny.«
Gulta musterte sie erleichtert.
»Steck ein paar Kerzen an«, schlug er vor, »oder eine Lampe. Das tut man in solchen Fällen. Glaube ich. Und dann …«
Vom Fenster her vernahmen sie ein leises Kratzen. Eine Krähe hockte auf dem Sims und beäugte sie argwöhnisch. Gulta erschrak und warf seinen Hut nach ihr. Der Vogel flog mit einem vorwurfsvollen Krächzen davon, und Esks Bruder klappte rasch die Fensterläden zu.
»Ich hab’ sie hier schon mal gesehen«, sagte er. »Ich glaube, Granny füttert sie. Fütterte sie«, berichtigte er sich. »Wie dem auch sei: Wir holen jemand und sind in Nullkommanichts wieder hier. Verlaß dich drauf. Komm, Ce!«
Sie eilten die dunkle Treppe hinab. Eskarina ließ die beiden Jungen aus dem Haus und verriegelte die Tür hinter ihnen.
Die Sonne schwebte als rote Scheibe dicht über den Bergen, und einige frühe Sterne funkelten bereits am Himmel.
Esk ging durch die finstere Küche, und nach kurzer Suche fand sie eine kleine gezogene Kerze und eine Zunderbüchse. Es dauerte eine Weile, bis es ihr gelang, den Docht zu entzünden, aber das flackernde Licht erhellte das Zimmer nicht; es bevölkerte die Dunkelheit nur mit Schatten. Sie entdeckte Grannys alten Schaukelstuhl, machte es sich darin gemütlich und wartete.
Die Zeit verstrich. Nichts geschah.
Dann hörte Eskarina ein leises Klopfen am Fenster. Sie
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