Das Erbe des Zauberers
Hexen einen Status, den man in anderen Kulturen Nonnen, Steuereintreibern und Jauchegrubenreinigern gewährte. Mit anderen Worten: Man respektierte sie, bewunderte sie manchmal sogar und achtete sie dafür, eine wichtige Arbeit zu erledigen; aber andere Menschen fühlten sich nie ganz wohl in der Haut, wenn sie mit solchen Leuten in einem Zimmer saßen.
»Würdest du gern die Hexerei erlernen?«, fragte Granny.
»Du meinst … Magie?«, erwiderte Eskarina. In ihren Augen leuchtete es auf.
»Ja, Magie. Aber keine, die nur dazu dient, naive Gemüter zu beeindrucken. Echte Magie.«
»Kannst du fliegen?«
»Es gibt weitaus interessantere Dinge als das Fliegen.«
»Und ich könnte sie lernen?«
»Wenn deine Eltern einverstanden sind.«
Eskarina seufzte. »Mein Vater ist bestimmt dagegen.«
»Dann spreche ich eben mit ihm«, sagte Granny. »Jetzt hör mir mal gut zu, Gordo Schmied!«
Der Schmied wich in seiner Werkstatt zurück und hob die Hände, um den Zorn der alten Frau abzuwehren. Sie näherte sich ihm langsam, den Zeigefinger wie einen Speer erhoben.
»Ich habe dich auf die Welt geholt, du dummer Narr, und du hast heute keinen Funken mehr Verstand im Kopf als damals …«
»Aber …«, wandte der Schmied ein und duckte sich hinter den Amboß.
»Die Magie hat deine Tochter gefunden! Die Magie eines Zauberers! Falsche Magie, verstehst du? Und sie war überhaupt nicht für Eskarina bestimmt!«
»Ja, aber …«
»Ahnst du denn nicht einmal, was sie anrichten könnte?«
Der Schmied ließ den Kopf hängen. »Nein.«
Granny fühlte sich aus dem Konzept gebracht und zögerte. »Nein«, wiederholte sie etwas leiser. »Nein, natürlich nicht.«
Sie nahm auf dem Amboß Platz und versuchte ruhige Gedanken zu denken.
»Weißt du, Magie führt eine Art … Eigenleben. Was eigentlich keine Rolle spielt, denn … Wie dem auch sei: Die Magie eines Zauberers …«
Granny musterte das verwirrte Gesicht des Schmieds und versuchte es noch einmal: »Nun, du kennst doch sicher Apfelwein, oder?«
Gordo nickte. Er glaubte, sich nun wieder auf festerem thematischen Boden zu bewegen, hielt jedoch argwöhnisch nach Fußangeln Ausschau und fragte sich, worauf die Hexe hinauswollte.
»Und dann gibt es da noch den Apfelschnaps«, fügte Oma Wetterwachs hinzu. Der Schmied nickte erneut. Alle Bewohner von Blödes Kaff stellten im Winter Apfelschnaps her, indem sie des Nachts Fässer mit Wein draußen stehen ließen und das Eis entfernten, bis nur noch ein Rest Alkohol übrigblieb.
»Nun, man kann ziemlich viel Apfelwein trinken und fühlt sich dadurch nur besser, nicht wahr?«
Der Schmied nickte zum drittenmal.
»Der Schnaps aber wird in kleinen Gläsern serviert, und wenn man eines zuviel runterspült, steigt einem das Zeug sofort in den Kopf, stimmt’s?«
Gordo nickte noch einmal und merkte, daß das Gespräch immer mehr zu einem Monolog wurde. »In der Tat«, sagte er.
»Das ist der Unterschied«, meinte Granny. »Der Unterschied zwischen was?«
Oma Wetterwachs seufzte. »Zwischen Hexerei und Zauberei«, erklärte sie. »Letzteres hat deine Tochter gefunden, und wenn sie nicht lernt, diese Art von Magie zu kontrollieren, besteht die Gefahr, daß sie Jenen zum Opfer fällt. Magische Macht kann wie eine Tür sein, doch manchmal wartet Gräßliches auf der anderen Seite. Begreifst du das?«
Der Schmied nickte wiederum. Eigentlich hatte er noch immer keine Ahnung, was Granny meinte, aber er vermutete zu Recht, daß ihm die Hexe einige schreckliche Einzelheiten nennen würde, wenn er eine entsprechende Frage stellte.
»Esk ist geistig sehr stark, und bestimmt könnte sie eine Zeitlang Widerstand leisten«, fuhr die alte Frau fort. »Doch früher oder später ginge es ihr an den mentalen Kragen.«
Gordo nahm einen Hammer von der Werkbank, betrachtete ihn so aufmerksam, als sähe er ihn zum erstenmal, legte ihn dann wieder beiseite.
»Aber wenn sie die Magie eines Zauberers hat …«, wandte er zögernd ein. »Was nützt es dann für sie, die Kunst der Hexerei zu erlernen? Du hast doch gerade auf die beträchtlichen Unterschiede zwischen diesen beiden Formen der Thaumaturgie hingewiesen.«
»Es handelt sich in jedem Fall um Magie. Wenn man nicht auf einem Nilpferd reiten kann, dann sollte man wenigstens lernen, nicht vom Rücken eines gewöhnlichen Rosses zu fallen.«
»Nilpferd?«
»Eine Art Dachs«, sagte Granny. Man gelangte nicht in den Ruf, sich in Flora und Fauna bestens auszukennen, wenn man Wissenslücken
Weitere Kostenlose Bücher