Das Erbe des Zauberers
wegen Eskarina gekommen, zischte sie.
Du solltest dich was schämen, sagte Granny schockiert.
Die schmutzige Phantasie verklemmter Hexen ist nicht meine Schuld, stellte der Baum fest.
Granny schob sich näher an den Stamm heran.
Großartig! freute sich der Baum. Granny kochte vor Wut.
Der Baum zuckte mit den Schultern. Schnee rieselte von den Zweigen. Dann mußt du sie eben ausbilden, schlug er vor.
Oma Wetterwachs zögerte. Ebensogut hätte der Apfelbaum fragen können, warum man von Ameisen nicht erwarten darf, den Scheibenweltrekord im Weitsprung zu brechen. Sie wußte, daß eine völlig klare, logische, höchst einsichtige, selbst für Zauberer verständliche und vor allen Dingen offensichtliche Antwort existierte. Sie lag ihr auf der mentalen Zungenspitze, aber zu ihrem großen Verdruß sah sie sich außerstande, die richtigen Worte aneinanderzureihen.
Wenn du eine Hexe als jemanden definierst, der das pankreatische Verlangen verehrt und verschiedenen anderen Dingen mit großem Respekt begegnet, zum Beispiel den elementaren … Der Baum setzte seinen Vortrag einige Minuten lang fort. Granny Wetterwachs hörte mit einer Mischung aus Ungeduld und Verärgerung zu, vernahm Bemerkungen wie Muttergöttinnen und primitive Mondadoration. Mehrmals erinnerte sie sich daran, daß sie sehr wohl über die Hexerei Bescheid wußte: Es kam darauf an, Kräuter zu kennen, zu fluchen, nachts herumzufliegen und ganz allgemein gesprochen die Tradition zu wahren. Es ging keineswegs um irgendwelche Göttinnen (ob es nun Mütter oder Jungfrauen sein mochten), die sich offenbar auf einige eher fragwürdige Tricks einließen. Als der Baum schließlich von nacktem Tanz im Mondschein sprach, versuchte Granny hastig an etwas anderes zu denken. Sie ahnte zwar, daß sich irgendwo unter den dicken Schichten aus Kleidern und Unterröcken Haut verbarg, aber das bedeutete noch lange nicht, daß dieser Umstand ihr Wohlwollen fand.
Nach einer Weile beendete der Baum seinen Monolog.
Ich bin kein Zauberer mehr, lautete die Antwort. Nur ein Baum. Granny sträubte die Federn.
Die Eule breitete die Flügel aus und segelte davon. Granny vermied es nur deshalb, vor Wut am ganzen Leib zu beben, weil das den Flug beeinträchtigt hätte. Zauberer! Sie redeten zuviel, sammelten Zaubersprüche wie Briefmarken in dicken Büchern. Und sie behaupteten unverschämt, ihre Art der Magie sei die einzig sinnvolle.
Granny stand auf dem unerschütterlich festen Standpunkt, daß Frauen nie Zauberer gewesen waren und ihren Ehrgeiz auch weiterhin auf andere Dinge richten sollten.
Als Oma Wetterwachs ihr Haus erreichte, stahl sich das erste Grau des neuen Tages in die Dunkelheit der Nacht. Zumindest ihr Körper, der nach wie vor im Heu lag, war ausgeruht. Sie hoffte, noch einige Stunden im Schaukelstuhl sitzen und in aller Ruhe nachdenken zu können. Sie liebte es, während der Übergangsphase zwischen Nacht und Tag ihre Gedanken treiben zu lassen, sie von allen Seiten zu betrachten und sich an ihren klaren, deutlichen Mustern zu erfreuen. Sie …
Der Zauberstab lehnte dicht neben dem Kleiderschrank an der Wand. Granny erstarrte förmlich.
»Ich verstehe«, sagte sie schließlich. »So ist das also, nicht wahr? Und noch dazu in meinem eigenen Haus, wie?«
Sie bewegte sich ganz langsam und vorsichtig, als sie an die Herdecke herantrat, einige Scheite auf die glühende Asche legte und den Blasebalg betätigte, bis hohe Flammen aufloderten.
Dann drehte sie sich um, murmelte vorsichtshalber einige Schutzformeln, griff nach dem Stab und zerrte daran. Er widersetzte sich ihr nicht, und die alte Hexe hätte fast das Gleichgewicht verloren. Sie schloß beide Hände um das harte Holz, verspürte ein sanftes Prickeln, hörte das leise Grollen und Knistern geballter Magie – und lachte laut.
Es war ganz einfach. Der befürchtete Kampf blieb aus.
Oma Wetterwachs verfluchte die Zauberer und ihre Beschwörungen, hob den Stab, hielt ihn hoch über dem Kopf und stieß ihn mit einem entschlossenen Ruck in die heißeste Stelle des Feuers.
Eskarina gellte. Ihr Schrei durchdrang den Fußboden im Schlafzimmer und hallte durch die dunkle Hütte.
Granny mochte alt und müde sein, und manchmal fiel es ihr nach einem langen anstrengenden Tag schwer, zwischen so komplizierten Dingen wie Ursache und Wirkung zu unterscheiden. Aber wenn man als Hexe überleben wollte, mußte man fähig sein, innerhalb kurzer Zeit zu wichtigen Schlußfolgerungen zu
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