Das Erbe des Zauberers
Frage.«
»Glaubst du, ich habe Magie benutzt?«
Esk sah auf die große Biene hinab und musterte dann die Hexe.
»Nein«, entgegnete sie, »ich glaube, du weißt nur gut über solche Insekten Bescheid.«
Granny lächelte.
»Stimmt haargenau. Dabei handelt es sich natürlich um eine Form von Magie.«
»Indem man sich in gewissen Dingen auskennt?«
»Indem man sich besser darin auskennt als andere Menschen«, sagte Granny. Vorsichtig setzte sie die Königin zu ihrem Volk zurück und schloß die Klappe.
»Ich glaube, es wird Zeit, daß du einige Geheimnisse erfährst«, brummte die alte Frau.
Endlich! dachte Eskarina.
»Doch zuerst müssen wir den Bienenstock ehren«, sagte Granny. (Es gelang ihr tatsächlich, kursiv zu sprechen.)
Esk überlegte gar nicht erst und machte einen Knicks. Eine faltige und runzlige Hand traf sie am Hinterkopf.
»Ich habe dir schon mehrmals gesagt, daß sich Hexen verbeugen«, zischte Granny, aber es klang nicht besonders böse. »Ich zeige es dir noch einmal.«
Sie krümmte den Rücken und Eskarina hörte, wie Gelenke knackten. »Aber warum?« fragte das Mädchen.
»Weil Hexen anders sein müssen«, erklärte Granny. »Und das ist bereits ein Geheimnis.«
Sie setzten sich auf eine ausgebleichte Bank, die an der Randwärtsseite der Hütte stand. Die vor ihnen wachsenden Kräuter hatten bereits eine Höhe von rund dreißig Zentimetern erreicht: eine nicht sehr eindrucksvolle Ansammlung hellgrüner Blätter.
»Nun gut«, ächzte Granny und versuchte, eine möglichst bequeme Position zu finden. »Erinnerst du dich an den Hut am Türhaken? Geh und hol ihn!«
Esk lief gehorsam ins Haus und griff nach dem Hut. Er lief spitz zu, war hoch und natürlich pechschwarz.
Granny drehte ihn nachdenklich hin und her.
»Im Innern dieses Hutes«, verkündete sie feierlich, »verbirgt sich ein weiteres Geheimnis der Hexerei. Wenn du mir nicht erklären kannst, worin es besteht, sollten wir deine Ausbildung besser beenden. Denn wenn du erst weißt, was ich meine, gibt es kein Zurück mehr für dich. Nun?«
»Darf ich ihn halten?«
»Nur zu.«
Esk blickte in den Hut. Er enthielt nur ein dünnes Drahtgestell, das ihm Form gab, und einige Haarnadeln. Mehr nicht.
Er schien keineswegs ungewöhnlich zu sein, sah man einmal davon ab, daß nur Granny eine derartige Kopfbedeckung trug und sonst niemand im Dorf. Doch das allein machte den Hut noch nicht magisch. Eskarina biß sich auf die Lippe und stellte sich vor, wie sie in Schimpf und Schande nach Hause geschickt wurde.
Der Stoff fühlte sich nicht seltsam an, und sie hielt vergeblich nach verstecken Taschen Ausschau. Ein völlig normaler Hexenhut. Granny setzte ihn immer auf, wenn sie nach Blödes Kaff ging, doch im Wald benutzte sie eine schlichte Lederkappe.
Granny ging nie ohne den Hut ins Dorf. Und sie streifte sich bei solchen Gelegenheiten auch immer den weiten schwarzen Mantel über, der ebenfalls keine magischen Eigenschaften besaß. Während des Winters benutzte sie ihn häufig als Ziegendecke, und im Frühjahr wusch sie ihn gründlich.
Langsam nahm die Antwort eine Gestalt an, die Esk nicht sehr gefiel. Sie erschien ihr typisch für Granny: nur ein Wortspiel. Die alte Hexe sprach von längst bekannten Dingen und wählte dabei besondere Formulierungen, durch die sie wichtig und bedeutend klangen.
»Ich glaube, ich weiß Bescheid«, sagte Eskarina nach einer Weile. »Heraus damit!«
»Die Antwort besteht aus zwei Teilen.«
»Ich höre.«
»Es ist ein Hexenhut, weil du ihn trägst. Und du bist eine Hexe, äh, weil du ihn aufsetzt.«
»Mit anderen Worten …«
Granny sah das Mädchen erwartungsvoll an.
»Die Leute sehen dich mit Hut und Mantel, erkennen dich somit als Hexe«, erläuterte Esk. »Und deshalb funktioniert deine … Magie?«
»Du hast recht«, bestätigte Oma Wetterwachs. »So etwas nennt man Pschikologie.«
Sie klopfte sich aufs silbergraue Haar, das sie zu einem festen Knoten zusammengesteckt hatte. Er war härter als Granit. »Die Lehre von der eigenen Schläue und der Dummheit anderer Leute.«
»Aber es ist ein Trick«, wandte Eskarina ein. »Es handelt sich nicht um echte Magie. Es … es …«
Granny seufzte. »Wenn du jemandem ein Fläschchen mit rotem Hustensaft gibst, so mag es dem Betreffenden nach einigen Tagen besser gehen, wenn du Glück hast. Aber wenn du ganz sicher sein willst, daß das Zeug wirkt, mußt du den Patienten davon überzeugen. Sag ihm, es sei eine Mischung aus Mondschein und
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