Das Erbe des Zauberers
Elfenwein oder etwas in der Richtung. Murmel ein bißchen vor dich hin. Ähnlich ist es auch mit dem Fluchen.«
»Mit dem Fluchen?«, wiederholte Esk unsicher.
»Ja, Mädchen. Sieh mich nicht so verdutzt an! Du wirst fluchen, wenn es notwendig sein sollte. Wenn du allein bist, dir niemand helfen kann und …«
Die alte Frau zögerte. Unbehagen entstand in ihr, als sie den fragenden Blick Eskarinas auf sich ruhen spürte. »… und man dir nicht mit angemessenem Respekt begegnet«, fügte sie mit einem leisen Brummen hinzu. »Wähl lange und komplizierte Flüche aus, und sprich sie möglichst laut und eindrucksvoll. Sie verfehlen ihre Wirkung nicht, glaub mir. Man wird sich schon bald an dich erinnern, wenn sich jemand mit einem Hammer auf den Daumen schlägt oder ein Hund tot umfällt. Und beim nächsten Mal kannst du damit rechnen, daß man dir mit ausgesuchter Höflichkeit begegnet.«
»Das klingt nicht nach echter Magie«, sagte Esk, scharrte mit den Füßen und wirbelte Staub auf.
»Einmal habe ich einem Mann das Leben gerettet«, erzählte Granny, »mit einer speziellen Medizin, die er zweimal täglich einnehmen sollte. Sie bestand aus heißem Wasser mit einem Schuß Beerensaft. Ich sagte ihm, die Arznei stamme von den Zwergen. Nun, das ist der wichtigste Teil des Doktorirens. Man muß das Interesse der Leute wecken, sie dazu bringen, sich selbst zu heilen.«
Gönnerhaft griff sie nach der Hand des Mädchens. »Eigentlich bist du für solche Sachen noch zu jung«, sagte die Hexe. »Aber wenn du größer bist, wirst du folgende Erfahrung machen: Die meisten Menschen treten nur selten aus ihrem Kopf heraus.«
Sie schloß: »Was auch auf dich zutrifft.«
»Ich verstehe nicht ganz …«
»Andernfalls wäre ich auch sehr überrascht gewesen«, erwiderte Granny streng. »Nenn mir jetzt fünf Kräuter, mit denen man Bronchitis behandeln kann!«
Allmählich erinnerte sich der Frühling an seinen angestammten Platz im Wechsel der Jahreszeiten und forderte den Winter mit allem Nachdruck auf, vorübergehend in Pension zu gehen. Granny nahm Esk bei Ausflügen mit, die den ganzen Tag dauerten. Sie zeigte ihr verborgene Teiche und kleine Seen, führte sie in abgelegene Schluchten, wo sie nach seltenen Pflanzen suchten. Eskarina fand großen Gefallen daran und hielt sich gern im Bereich der hohen Hänge auf; dort brannte die Sonne erstaunlich heiß vom Himmel, während die Luft eiskalt blieb. Eine dichte Decke aus Blättern und Blüten wuchs auf dem Boden. Von einem der höchsten Gipfel aus konnte das Mädchen bis zum großen Meer am Rande der Scheibenwelt sehen. In der anderen Richtung verloren sich die ins ewige Gewand des Winters gekleideten Spitzhornberge in dunstiger Ferne. Sie reichten bis zur Mitte, wo ein zehn Meilen hohes gewaltiges Massiv aufragte, von dem es hieß, es diene den Göttern als Heimstatt.
»Mit Göttern ist soweit alles in Ordnung«, sagte Granny, als sie den Picknickkorb auspackten und die Aussicht genossen. »Wenn man sie nicht belästigt, lassen sie einen in Ruhe.«
»Kennst du viele Götter?«
»Nun, einige Male habe ich den Donnergott gesehen«, antwortete die alte Hexe. »Und natürlich Hoki.«
»Hoki?«
Granny biß von einer besonders weichen Stulle ab. »Der Naturgott«, sagte sie. »Manchmal wählt er die Gestalt einer Eiche oder manifestiert sich als ein Mischwesen, halb Mensch, halb Ziege. Ich halte ihn hauptsächlich für eine verdammte Nervensäge. Selbstverständlich findet man ihn nur im tiefen Wald. Dort spielt er Flöte. Und zwar ziemlich schlecht, wenn du mich fragst.«
Eskarina lag auf dem Bauch und ließ den Blick über die Landschaft in der Tiefe gleiten, während einige freischaffende Hummeln über Thymiansträuchern patrouillierten. Sie fühlte warmen Sonnenschein auf dem Rücken, obgleich in dieser Höhe noch immer Schnee an den Mittwärtsseiten der Felsen lag.
»Berichte mir von den Regionen dort unten!«, bat Esk verträumt.
Granny starrte mißbilligend auf eine zehntausend Meilen weite Landschaft.
»Es sind nur andere Orte«, erwiderte sie knapp. »Sie unterscheiden sich kaum von denen, die du bereits kennst.«
»Gibt es dort große Städte und so?«
»Ich fürchte schon.«
»Hast du sie einmal besucht?«
Granny ließ sich zurücksinken, hob vorsichtig den Rock und enthüllte einige Quadratzentimeter soliden Baumwollflanell. Das Sonnenlicht erfüllte ihre alten Knochen mit wohliger Wärme.
»Nein«, erwiderte sie. »Es gibt hier bereits genug Probleme.
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