Das Erbe des Zauberers
gelangen. Als sie auf den Zauberstab im Feuer starrte und den Schrei hörte, setzten sich ihre Hände von ganz allein in Bewegung und streckten sich dem großen schwarzen Topf entgegen. Sie entleerte ihn über den Flammen, zog den Stab aus wogendem Dampf und eilte mit besorgt klopfendem Herzen die Treppe hoch.
Esk saß im schmalen Bett und schrie immer noch. Granny sah auf den ersten Blick, daß sie keine Verbrennungen erlitten hatte, schloß das Mädchen in die Arme und versuchte es zu trösten. Sie wußte nicht genau, wie sie dabei vorgehen sollte, aber der eine oder andere Klaps auf den Rücken und ein beruhigendes Brummen schienen zu wirken. Aus dem Schreien wurde ein leises Wimmern, dann ein mitleiderweckendes Schluchzen. Manchmal hörte Granny Worte wie ›Feuer‹ und ›heiß‹. Betroffen preßte sie die Lippen zusammen.
Schließlich legte sie Esk wieder ins Bett, deckte sie zu und ging auf Zehenspitzen die Treppe hinunter.
Der Zauberstab lehnte wieder an der Wand, und es erstaunte die alte Hexe überhaupt nicht, daß die Flammen keine Spuren auf dem Holz hinterlassen hatten.
Sie drehte den Schaukelstuhl herum, nahm Platz, stützte das Kinn auf die Hände und beobachtete den Stab betont grimmig.
Kurz darauf neigte sich der Stuhl ganz von allein vor und zurück. Granny Wetterwachs hörte nur das leise Knarren, als sich die Stille verdichtete und wie ein düsterer Nebel im Zimmer ausbreitete.
Am nächsten Morgen, bevor Eskarina aufstand, versteckte Granny den Zauberstab. Aus den Augen, aus dem Sinn, dachte sie zufrieden.
Als Esk ihr Frühstück aß und dazu ein großes Glas Ziegenmilch trank, erweckte sie den Anschein, als seien die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden spurlos an ihr vorübergegangen. Zum erstenmal beschränkte sich ihr Aufenthalt im Haus der Hexe nicht nur auf die Dauer eines kurzen Besuchs, und während Oma Wetterwachs das Geschirr spülte und die Ziegen melkte, nutzte das Mädchen die stillschweigend erteilte Erlaubnis, die Hütte zu erforschen.
Schon bald stellte es fest, daß es im Heim der alten Frau einige Besonderheiten gab. Zum Beispiel die Sache mit den Ziegen.
»Aber sie müssen doch Namen haben!«, sagte Eskarina. »Wie alles andere auch!«
Granny blickte an den birnenförmigen Flanken der Geiß vorbei, die sie gerade melkte. Es handelte sich gewissermaßen um die Matriarchin der kleinen Schar, und diesen Status verdeutlichte sie mit einem würdevollen Blick.
»Nun, ich schätze, sie haben Namen, in Ziegisch«, erwiderte sie vage. »Warum brauchen sie auch noch welche in unserer Sprache?«
»Nun …«, begann Esk und unterbrach sich. Sie dachte eine Zeitlang nach. »Wie rufst du sie denn?«
»Sie rufen mich, wenn sie etwas von mir wollen.«
Esk reichte der Ziegenmatriarchin ernst ein Bündel Stroh, und Granny musterte sie aus den Augenwinkeln. Sie war ziemlich sicher, daß Ziegen tatsächlich Namen hatten. Zum Beispiel ›die Ziege, die ich zur Welt brachte‹, ›die Ziege, die meine Mutter ist‹, ›das Oberhaupt der Ziegenherde‹ und viele andere, nicht zuletzt ›die Ziege, die einfach nur eine Ziege ist‹. Sie lebten in einem recht komplizierten Gesellschaftssystem, nannten vier Mägen und einen Verdauungsapparat ihr eigen, der in stillen Nächten verblüffend laut sein konnte. Granny neigte zu der Auffassung, daß Tiere, die etwas auf sich hielten, Namen wie Butterblume oder Hahnenfuß als Beleidigung empfanden.
Sie traf eine Entscheidung. »Esk?«, fragte sie. »Ja?«
»Was möchtest du werden, wenn du groß bist?«
Esk runzelte die Stirn. »Keine Ahnung.«
»Nun«, sagte Oma Wetterwachs und zog nach wie vor an den Zitzen der Ziege, »was möchtest du tun, wenn du groß bist?«
»Keine Ahnung. Vermutlich heirate ich.«
»Ist das dein Wunsch?«
Eskarinas Lippen formten das K ihrer üblichen Antwort, aber als sie den durchdringenden Blick der Hexe bemerkte, schloß sie den Mund wieder und überlegte.
»Alle Erwachsenen, die ich kenne, sind verheiratet«, sagte sie nach einer Weile. »Du bist die einzige Ausnahme«, fügte sie vorsichtig hinzu.
»Das stimmt«, bestätigte Granny. »Wolltest du nicht heiraten?«
Daraufhin dachte die alte Frau nach.
»Bin irgendwie nie dazu gekommen«, erwiderte sie schließlich. »Weißt du, ich war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt.«
Eskarina riskierte einen verbalen Vorstoß. »Mein Vater meint, du bist eine Hexe.«
»Und damit hat er völlig recht.«
Esk nickte. In den Spitzhornbergen genossen
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