Das Erbe des Zauberers
gewöhnen zu können, daß sie es nicht mehr haßte, sondern nur noch verabscheute. Eigentlich fehlte nur eine Vorrichtung, die dafür sorgte, daß man nicht ständig nach unten starrte.
Der Adler hockte auf einem Läufer, der vor dem kalten Kamin lag. Er trank ein wenig Wasser, das Granny zuvor mit einigen Zaubersprüchen behandelte – für gewöhnlich benutzte sie diese Formeln nur, um Patienten zu beeindrucken, aber man konnte nie wissen: Vielleicht nützten sie tatsächlich etwas –, und er fraß auch einige Streifen rohes Fleisch.
Doch die ganze Zeit über offenbarte er nicht das geringste Anzeichen von Intelligenz.
Die alte Hexe fragte sich, ob sie den richtigen Vogel gefunden hatte. Sie riskierte es erneut, sich ihm zu nähern, blickte in böse funkelnde gelbe Augen und versuchte sich davon zu überzeugen, daß in den Tiefen des animalischen Bewußtseins, in irgendeinem dunklen Ichgewölbe, ein sonderbares blasses Licht flackerte.
Behutsam sondierte sie die fremde Gedankensphäre. Der Geist des Adlers bot sich ihr wie gewohnt dar: lebendig und scharf. Aber außerdem fühlte sie auch noch etwas anderes. Das Ego hat natürlich keine Farbe, doch Granny glaubte trotzdem, das Vogelselbst als eine Zusammenballung verschiedener purpurner Schichten zu erkennen. Und in dieser Masse beobachtete sie ein Gespinst aus dünnen silbernen Linien.
Esk hatte zu spät begriffen, daß der Körper den Geist formt. Das Borgen an sich war harmlos, doch der Traum eines echten Gestaltwandels enthielt eine Strafoption.
Granny nahm im Schaukelstuhl Platz, wippte einige Male und gestand sich ein, daß sie nicht mehr weiter wußte. Sie sah sich außerstande, zwei miteinander verwobene Bewußtseine voneinander zu trennen. Eine solche Aufgabe überstieg die Fähigkeiten aller Hexen in den Spitzhornbergen. Nicht einmal …
Es blieb alles still, aber irgendwie schien sich die Beschaffenheit der Luft zu verändern. Granny beobachtete den Zauberstab, den sie nur widerwillig in ihrer Hütte duldete. »Nein!«, zischte sie.
Vorsichtig schickte Granny sanfte Gedanken in den Geist des Vogels, um ihn zu beruhigen und die mentalen Gewitterwolken einer beginnenden Panik zu vertreiben. Der Adler leistete keinen Widerstand, als sie nach ihm griff. Die Krallen schlossen sich so fest um ihr Handgelenk, daß Blut aus winzigen Wunden drang.
Dann nahm die alte Hexe den Zauberstab, ging nach oben und betrat das Schlafzimmer mit der durchhängenden Decke. Eskarina lag noch immer reglos im Bett, wie tot.
Sie setzte den Vogel auf die Bettstange und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Stab. Erneut veränderten sich die Konturen der Schnitzmuster, um nicht ihre wahre Form zu zeigen.
Granny hatte schon mehrfach thaumaturgische Energie eingesetzt, ging dabei jedoch eher zögernd zu Werke und beschränkte sich darauf, leichten Druck auszuüben, um das angestrebte Ziel zu erreichen und eine Veränderung im Gefüge der Realität zu bewirken. Natürlich wählte sie andere Worte, um diesen Vorgang zu beschreiben, zum Beispiel: Wenn man an der richtigen Stelle sucht, findet man immer einen Hebel. Nun, die im Zauberstab konzentrierte Macht war gewaltig und formlos: pure Magie, ein Destillat jener Kräfte, die dafür sorgten, daß im Universum alles mit rechten Dingen zuging.
Die Verwendung solcher Energien erforderte ihren Preis. Und Grannys Wissen über Zauberei ließ sie ahnen, daß sie nicht mit einem Rabatt rechnen durfte. Andererseits: Warum betritt man überhaupt den Laden, wenn man sich über einen zu hohen Preis sorgt?
Sie räusperte sich und überlegte verzweifelt, wie sie sich jetzt verhalten sollte. Möglicherweise genügte es, einfach nur den Geist zu öffnen …
Die Macht traf sie wie ein Hammerschlag. Granny spürte, wie sie angehoben wurde, und als sie den Kopf senkte, stellte sie überrascht fest, daß sie noch immer auf dem Boden stand. Sie tat einen Schritt nach vorn, und magische Entladungen knisterten in unmittelbarer Nähe. Sie streckte die Hand aus, um sich gegen die Wand zu stützen, und das alte Holz erbebte. Aus schreckgeweiteten Augen sah sie, wie sich grüne Keimlinge bildeten und erste Blätter entfalteten. Ein magischer Orkan heulte durchs Zimmer, wirbelte Staub auf und gab ihm einige sehr beunruhigende Formen. Ein Krug splitterte, und die daneben stehende Spülschüssel mit dem reizenden Rosenmuster zerbrach. Der Nachttopf unter dem Bett verwandelte sich in etwas Greuliches und schlich davon.
Granny setzte zu einem
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