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Das Erbe des Zauberers

Das Erbe des Zauberers

Titel: Das Erbe des Zauberers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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anderen Ort befanden –, woraufhin der Adler die Schwingen anwinkelte und nach links glitt.
    »Nicht schlecht«, sagte Granny und versuchte, ihr Erstaunen zu verbergen. »Wie hast du das erreicht?«
    »Ich … weiß nicht. Es erschien mir offensichtlich.«
    »Hm.«
    Vorsichtig sondierte Granny das Ich des Vogels. Der Adler ahnte noch immer nichts von seinen beiden mentalen Passagieren. Die alte Frau war zutiefst beeindruckt, was nicht sehr häufig geschah.
    Sie schwebten über dem Berg, und Esk begann mit einer begeisterten Erforschung der Adlersinne. Grannys Stimme hallte durch ihr Bewußtsein, gab ihr Ratschläge und Anweisungen, warnte sie dann und wann. Eskarina hörte nur mit halbem Ohr zu. Es klang alles viel zu kompliziert. Warum konnte sie nicht einfach das fremde Ich übernehmen? Es trug dadurch gewiß keinen Schaden davon.
    Sie konnte deutlich sehen, wie sie dabei vorgehen mußte: ein fester Griff an der richtigen Stelle, nicht schwerer als ein Fingerschnippen (was Esk noch nie zustande gebracht hatte) – und dann brauchte sie sich nicht mehr mit Erfahrungen aus zweiter Hand zu begnügen, konnte das Fliegen richtig erleben.
    Dann …
    »Laß das!«, sagte Granny ruhig. »Du würdest es bedauern.«
    »Was?«
    »Glaubst du etwa, es hätte noch niemand vor dir versucht, Mädchen? Jede Hexe hat sich irgendwann einmal vorgestellt, wie interessant es wäre, einen fremden Körper zu übernehmen, um zu den Wolken aufzusteigen oder Wasser zu atmen. Es ist nicht annähernd so leicht, wie du dir das vorstellst.«
    Esk warf ihr einen finsteren Blick zu.
    »Sieh mich nicht so an!«, fuhr die alte Frau fort. »Eines Tages wirst du mir für diesen Hinweis danken. Hüte dich vor Dingen, mit denen du dich noch nicht auskennst, klar? Bevor du zu irgendwelchen Tricks greifst, solltest du genau wissen, welche Konsequenzen sich daraus ergeben könnten – und wie man sie vermeidet. Versuch erst dann zu gehen, wenn du laufen gelernt hast.«
    »Ich spüre, worauf es zu achten gilt, Granny.«
    »Mag sein. Aber vielleicht täuschst du dich. Das Borgen ist schwieriger, als es den Anschein hat – obwohl ich zugeben muß, daß du dich sehr geschickt anstellst. Nun, für heute reicht’s. Bring uns jetzt wieder zur Wiese! Dort zeige ich dir, wie man zurückkehrt.«
    Der Adler segelte hoch über den beiden reglosen Gestalten im Gras, und vor ihrem inneren Auge sah Eskarina zwei Verbindungsstränge: geistige Pfade, die nach unten führten. Grannys Gedankenschatten verflüchtigte sich.
    Jetzt …
    Die alte Frau irrte sich. Das Ich des Vogels leistete kaum Widerstand, und es blieb ihm nicht genug Zeit, in Panik zu geraten. Esk hüllte es in ihre eigene Selbstsphäre. Dort wand es sich einige Male hin und her, bevor es mit ihr verschmolz.
    Granny öffnete die Augen und hörte, wie der Adler ein triumphierendes Krächzen von sich gab. In einer Höhe von nur wenigen Metern sauste er über den grasbewachsenen Hang und glitt an der Flanke des Berges entlang. Grannys Blicke folgten ihm, doch schon nach kurzer Zeit verwandelte er sich in einen kleinen Punkt und entschwand wenig später aus ihrer Sicht. Ein zweiter Schrei verhallte in der Ferne.
    Die Hexe beobachtete Esks schlaffen Körper. Das Mädchen wog zwar nicht sehr viel, aber es war ein weiter Weg nach Hause, und der Nachmittag ging langsam in den Abend über.
    »Verflixt«, murmelte sie ohne besonderen Nachdruck, stand auf und strich sich den Rock glatt. Mit einem mühevollen Stöhnen hob sie Eskarinas leblos anmutenden Leib auf und trug ihn auf der Schulter.
    Im scharlachroten Licht der untergehenden Sonne stieg Esk-Adler höher, wie berauscht von der Ekstase des Fluges.
    Auf dem Heimweg begegnete Granny einem hungrigen Bär. Die alte Frau litt an Rückenschmerzen und war nicht in der Stimmung, angeknurrt zu werden. Sie brummte einige leise Worte, und zu seinem (recht kurzen) Erstaunen prallte der Bär an einen Baumstamm. Er kam erst nach einigen Stunden wieder zu sich, rieb sich verwirrt die Schnauze und machte sich eilig auf und davon.
     
    Granny betrat ihr Haus, brachte Esk ins Bett und entzündete ein Feuer im Kamin. Sie führte die Ziegen in den Stall, melkte sie und traf Vorbereitungen für die Nacht.
    Die Hexe vergewisserte sich, daß alle Fenster offenstanden, und als es dunkel wurde, stellte sie eine Lampe so auf, daß man ihr Licht schon von weitem sehen konnte.
    Eine der Angewohnheiten von Oma Wetterwachs bestand darin, jeweils nur einige Stunden hintereinander zu

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