Das Erbe des Zauberers
verschwand hastig unter der dunklen Markise. Kurz darauf kehrten die Betreffenden zurück, verstauten heimlich eine Börse und wetteiferten mit solcher Hingabe um den Weltmeistertitel im Möglichst Lässigen Spaziergang, daß ein müßiger Beobachter zweifeln mochte, ob er seinen Augen noch trauen konnte.
Granny schöpfte sofort Verdacht.
»Was wird dort verkauft?«, fragte Esk. »Wofür bezahlen die Leute?«
»Für Medizin«, sagte die alte Hexe mit Nachdruck.
»Offenbar gibt es in dieser Stadt ziemlich viele Kranke«, meinte Eskarina ernst.
Das Innere des seltsamen Standes schien nur aus finsteren Schatten und Schemen zu bestehen, und der Kräuterduft war so stark, daß man ihn in Flaschen hätte füllen können. Fachmännisch betrachtete Granny einige Bündel aus getrockneten Blättern, und Esk versuchte unterdessen, die Etiketten einiger Krüge zu lesen. Sie kannte die meisten Elixiere und Heiltränke, die Oma Wetterwachs herstellte, aber diese Spezialitäten gehörten nicht zu ihrem Repertoire. Die Namen klangen sonderbar: Tigeröl, Jungfrauentraum, Ehemanns Gehilfe. In einer Ecke lagen einige Stöpsel, die so rochen wie Grannys Waschküche nach einer mysteriösen Destillation, bei der die alte Hexe auf die Hilfe ihrer jungen Assistentin verzichtete.
Weiter hinten bewegte sich eine klimpernde Gestalt, und faltige braune Finger griffen nach Eskarinas Hand.
»Kann ich dir helfen, Fräulein?«, fragte eine krächzende Stimme. Der Tonfall war so süß wie Feigensirup. »Soll ich das Schicksal für dich deuten? Oder möchtest du, daß ich die Zukunft für dich verändere?«
»Sie gehört zu mir«, sagte Granny scharf und drehte sich um. »Siehst du denn nicht, daß du es mit einem Kind zu tun hast, Hilta Ziegenfinder? Brauchst du vielleicht eine Brille?«
Der Schatten vor Esk beugte sich vor.
»Esme Wetterwachs?«, fragte die Stimme. Jetzt klang sie wie Lebertran.
»Genau die«, bestätigte Granny. »Verkaufst du noch immer Donnertropfen, eingefangene Blitze und ähnliche Kinkerlitzchen, Hilta? Wie läuft der Laden?«
»Oh, ich kann nicht klagen«, antwortete der klirrende Schatten. »Freut mich, dich wiederzusehen. Was führt dich aus deinem Bergexil hierher, Esme? Und das Mädchen … Vielleicht deine Schülerin?«
»Was verkaufst du hier?«, warf Esk aufgeregt ein. Die dunkle Gestalt lachte.
»Oh, Dinge, die unangenehme Dinge verhindern und erfreuliche Dinge ermöglichen sollen, Schätzchen«, erwiderte der Schatten. »Bitte entschuldigt mich einen Augenblick. Ich möchte nur rasch das Geschäft schließen. Bin gleich wieder da.«
Der Schatten rasselte vorbei, und Esk nahm ein Kaleidoskop der verschiedensten Gerüche wahr. Hilta Ziegenfinder knöpfte die Tücher am Eingang des Ladens zu, kehrte in die rückwärtige Nische zurück und zog die Vorhänge beiseite. Das helle Licht der Nachmittagssonne blendete Eskarina.
»Eigentlich sind mir die Dunkelheit und der Mief ein Greuel«, meinte Hilta. »Aber der Kunde erwartet so etwas. Du weißt ja, wie das ist.«
»Ja.«
Esk nickte weise. »Pschikologie.«
Die andere Hexe erwies sich als eine kleine dicke Frau, die einen riesigen obstgeschmückten Hut trug. Sie schenkte Eskarina ein breites Lächeln und sah dann Granny an.
»Stimmt haargenau«, pflichtete sie dem Mädchen bei. »Darf ich euch Tee anbieten?«
Sie begaben sich in die Hinterkammer des Ladens, die zu beiden Seiten von Hauswänden begrenzt wurde, und nahmen auf einigen Ballen aus rätselhaften Kräutern Platz. Hilta reichte ihnen zierliche Tassen, und Esk kostete aus einer eigentümlich schmeckenden grünen Flüssigkeit. Im Gegensatz zu Oma Wetterwachs, die sich wie ein würdevoller Rabe kleidete, bestand die Aufmachung der alten Ziegenfinder aus Seide, Spitzen, Schalen, bunten Farben, Ohrringen und Dutzenden von Armreifen. Jede Bewegung hörte sich an, als stürzten mehrere Schlagzeuger mitsamt ihren Instrumenten von einer hohen Klippe. Dennoch fiel Esk eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden Frauen auf.
Man konnte sie nur schwer beschreiben: Die Vorstellung, daß Granny und Hilta einen Knicks machten, erschien absurd.
»Nun«, brummte Oma Wetterwachs, »bist du mit dem Leben hier zufrieden?«
Die Hexenkollegin zuckte mit den Schultern, wodurch die Trommler, die gerade den Rand der Klippe erreicht hatten, erneut den Halt verloren.
»Ach, es ist wie beim Liebhaber, der es zu eilig hat: ein dauerndes Auf und …«
Hilta Ziegenfinder unterbrach sich, als sie Grannys
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