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Das Erbe

Das Erbe

Titel: Das Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krystyna Kuhn
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noch ich übrig. Und ich war wie gelähmt.
    Die Luft stank nach Schießpulver und Benzin. Aus Angst, mich zu verraten, wagte ich es nicht zu atmen. Ich hörte ein lautes Krachen von oben, als würden Möbel zerschlagen. Danach nur noch die Alarmsirene. Und dann eine Stimme, die sich laut schreiend näherte. Ist hier noch jemand?
    Das ist das Ende. Ihr habt ja keine Ahnung ... so was von keine Ahnung. Eher sterbe ich, als dass ich meine eigenen Gedanken verrate. Aber bevor ich diesen Ort, die Welt freiwillig verlasse, werde ich mir meine Begleiter aussuchen. Der Flur um mich veränderte sich. Der Boden, die Wände, die Türen, die Lampen. Sie schienen zu verblassen, bis sie irgendwie farblos waren. Nicht mehr erkennbar. Sie flossen ineinander. Verschwammen zu einer einzigen riesigen weißen Fläche, auf die die Sätze von oben auf mich herunterprasselten, wie mit einem Beamer an die weiße Wand geworfen wurden:
    Wisst ihr, was ich hasse? Euer Lachen. Wisst ihr, was ich hasse? Den Präsidenten.
    Was ich hasse? Wollt ihr es wissen? Jeden einzelnen von euch. Wisst ihr, was ich hasse? Menschen, die ihre eigenen Fragen beantworten. Wisst ihr, was ich hasse? Diese SCHEISS-Werbung immer!!!!!!!!!!!!!!!!!!! KOTZ Michael-Jackson-Fans. Leute, die ihre Baseballcaps verkehrt herum aufsetzen. RattenallergikerPsychologenSonneSterneMond.
    Der erste klare Gedanke, den ich wieder fasste, war: Er hasst auch mich. Er hasst mich. Und wenn er mich findet, wird er mich erschießen. Ich war nicht bereit für den Tod. Hatte nie groß über ihn nachgedacht. Und seit ich Vic kennengelernt hatte, schon gar nicht. Welche Arroganz ich damals in mir trug. David. Der Name, der die Bedeutung hatte: Geliebter, Liebling Gottes.
    Und nun stürzte er sozusagen auf mich zu. Ich konnte nichts anderes tun, als vor ihm fliehen. Die Gegenrichtung einzuschlagen.
    Mein Unterbewusstsein übernahm und ich tat das, was es mir sagte. Ich rannte nicht, ich schlich, obwohl meine Angst das Gegenteil befahl. Und ich riss die Tür vor mir nicht auf, ich öffnete sie leise und schloss sie wieder hinter mir.
    Ein Blick und ich wusste, wo ich mich befand. Im Chemiesaal. Und jetzt übermannte mich die Panik. Ich zog die Tür eines der Metallschränke auf. Wie ein Wahnsinniger zerrte ich alles heraus, was mir unter die Finger kam. Bunsenbrenner, Reagenzgläser, Pipetten, Schutzbrillen, Schutzhandschuhe. Dann kroch ich auf Händen und Knien in das unterste Fach und rollte mich dort zusammen. Es war eng, so eng, als würden die Metallplatten immer näher rücken. Und die verdammte Tür ließ sich nicht schließen. Ich zog sie mit den Fingerspitzen, so nah es ging, an mich heran und betete, dass man mich durch den schmalen Spalt nicht entdecken konnte. Mein Atem war so laut, dass ich sicher war, man müsste mich bis in den ersten Stock hören. Verzweifelt versuchte ich, mich zusammenzunehmen. Ich erinnerte mich an sämtliche Meditationsübungen, die ich kannte, und es gelang mir tatsächlich, flacher zu atmen.
    Dann ertönte der nächste Schuss.
    Ich zuckte zusammen.
    Schritte, die die Treppe herunterkamen, und wieder die Stimme, die laut brüllte:
    Ich hasse Leute, die sich in Dinge einmischen, die sie nichts angehen. Diese ewigen, nervtötenden Gutmenschen. Ampeln, die vor meiner Nase auf Rot springen. Erfolgsmenschen. Basketball, Baseball, Football, alle Fuckbälle auf der Welt. Manipulationen der menschlichen Psyche. Die Verherrlichung von Shakespeare, ich hasse Hamlet.
    Obwohl …
    Ich hörte ihn lachen: Hahaha.
    Der Satz Sein oder nicht sein ist wirklich gut, oder? Oder Mrs Bernard?
    Habe ich nicht recht?
    Wo sind Sie, Mrs Bernard?
    Ich hasse Ihren Unterricht. Ich hasse Ihr Geschwafel über Literatur. Ich hasse Krankenhäuser. Ich hasse es, fotografiert zu werden. Und wenn ich etwas sage, dann gilt das. Kein Wort kommt aus meinem Mund, das ich nicht hundert Prozent so meine. Ich habe meine eigenen Gesetze. Wenn jemand dagegenhandelt, dann stirbt er. Dummköpfe – Peng! Plötzlich wurde es leise. Eine knisternde Stille. Die Schritte wurden deutlicher.
    Dann ein leises Lachen. Oder bildete ich es mir nur ein? Mein Herzschlag dröhnte in meinen Ohren. Ich konnte nichts mehr hören außer der Panik, die meinen Körper erfasst hatte. Immer weiter krümmte ich mich zusammen, wurde kleiner und kleiner, meine Finger umklammerten das Schloss der Schranktür, die ich mit aller Kraft an mich zog. Ich würde sie tagelang so halten können. Die Kraft in meinen Fingern würde nicht

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