Das Erbe
schlagen.
Was ich dort las, war die Ankündigung eines Amoklaufs, in ordentlichen Großbuchstaben auf das Papier gezeichnet.
Datum: 10. März 2012.
Uhrzeit: 11: 00 Uhr.
Ich dachte an nichts. Einfach an nichts. Mein Gehirn loggte sich aus. Es war das eine, dass die Vergangenheit wie ein Bumerang zurückkehrte. Aber das hier war jenseits aller Vorstellungskraft.
»Das bist du«, hörte ich Robert sagen.
Daran gab es keinen Zweifel. Wie hätte ich es leugnen können?
Das Bild zeigte ganz eindeutig mich.
Doch wann und wo es entstanden war? Ich hatte nicht die leiseste Ahnung.
Robert fragte mich nicht, was das zu bedeuten hatte. Er sagte nur: »Da hat sich jemand viel Mühe gemacht, dich in diese Szene einzubauen.«
Es dauerte eine Weile, bis ich sprechen konnte, und auch dann brachte ich nicht mehr als ein Krächzen hervor. Der Staub verklebte mir die Atemwege. Als ob meine Lungen ihn einfach aus der Luft filterten.
»Ich habe keinen solchen Mantel.«
»Aber mit einem guten Bildbearbeitungsprogramm geht alles«, erwiderte Robert.
»Wie bist du auf dieses Bild gestoßen?«
»Darauf bin ich nicht gestoßen. Es wurde mir aufgedrängt.« Er zeigte es mir. »Es gab jeweils einen Link auf der Webseite des Grace Chronicle und des Colleges. Jeder, der auf diesen Seiten surft, muss den Link nur anklicken und gelangt zu diesem Foto. Und ich fürchte, dabei ist es nicht geblieben. Die ganze Welt kann dich sehen. Das verbreitet sich so schnell im Internet, da ist ein Grippevirus nichts dagegen.«
Robert klickte sich durch die Fenster.
Ich erkannte es auf dem Nachrichtenticker der New York Times. Ich erkannte es in den Breaking News auf CNN.
Ich erkannte es auf der gottverdammten Google-Startpage.
Mit einem Klick wurde ich zur meistgesuchten Person des Kontinents. Der Amoklauf war zur wichtigsten Nachricht des Tages geworden.
»Das bedeutet, sie suchen nach dir. Hier im College. Du bist ihr Täter, David.«
Das waren die Fakten. Ich hörte, wie Robert sie aussprach.
»Du weißt, dass ich das nicht bin.« Es brauchte nicht lange, um mich schuldig zu fühlen.
Robert nahm seine Brille ab, hielt sie einige Sekunden in der Hand und schob sie sich wieder ins Gesicht. Sah mich einige Sekunden lang unschlüssig an, als hätte er tatsächlich Zweifel. »Wir wissen doch alle, dass Bilder lügen.« Sein rechter Zeigefinger fuhr über die Stirn. »Aber du musst dich verstecken. Du hättest im Tunnel bleiben sollen.«
Ja, Robert hatte recht. Aber ich konnte das nicht tun. Ich hatte einmal mein Leben gerettet, während andere sterben mussten. Ich hatte mich feige versteckt, während ich hätte handeln müssen. Und ich vergaß den Eid nicht, den ich abgelegt hatte. Ich dachte an Robert, den ich damals aus dem See geholt hatte, an Ana Cree, die wir aus der Eishöhle gerettet hatten, an Rose, deren Leben an einem seidenen Faden gehangen hatte. Meine Aufgabe war noch nicht beendet.
»Nein«, ich schüttelte den Kopf. »Ich werde sie nicht im Stich lassen.«
»Sobald die Polizei dich entdeckt, werden sie nicht zögern, dich einfach zu erschießen.«
»Das Risiko werde ich eingehen. Ich muss, verstehst du? Ich werde mich nicht wieder verstecken.«
Er fragte nicht, was das wieder zu bedeuten hatte. Es war nicht Roberts Art, Fragen zu stellen. Stattdessen sagte er: »Du begreifst, was das alles bedeutet. Heute bist du an der Reihe. Das darfst du nicht vergessen. Du musst überleben, verstehst du? Wir sind nicht zufällig hier. Etwas verbindet uns. Und es gibt jemanden, der alles genau geplant hat und uns auf die Probe stellt.«
Ich fragte nicht nach, wer dieser Jemand war. Aber Robert meinte nicht den Amokläufer. Zum ersten Mal äußerte einer von uns den Verdacht, hinter all den Ereignissen der letzten Monate könnte eine reale Person stecken. Ein großer Unbekannter. Und vielleicht war das Tal nur die Kulisse. Dass es ausgerechnet Robert war, der es aussprach, ließ es umso realer erscheinen.
Diesmal nahmen wir nicht den Fahrstuhl, sondern die Treppe, die über das Archiv im Zwischengeschoss nach oben führte. Wie nahe wir dem Geschehen die ganze Zeit gewesen waren, verrieten uns die Geräusche, die aus dem Erdgeschoss zu uns herunterdrangen. Wir ließen die Stille des zweiten und des ersten Untergeschosses zurück und tauchten ein in das Chaos. Je mehr Treppenstufen wir zurücklegten, desto lauter wurde das Dröhnen der Hubschrauber, die ganz offensichtlich in der Luft kreisten.
Ich spürte plötzlich, wie sich alles in
Weitere Kostenlose Bücher