Das Erbstueck
alle guten Freunde auf dieser Welt
stehen um dein Lager in diesen Tagen.
Friede deiner Seele! Wir senken
deinen Staub in Liebe.
Wenn ich nüchtern gewesen wäre, hätte ich jedes einzelne »wir« und »unser« durch »ich« und »mein« ersetzen können. Ich weinte und hob einen Zweig der Kletterrose hoch und steckte ihn zwischen die anderen Zweige, aber meine Nase war noch immer
so verstopft, dass ich den Duft der Blüten kaum wahrnehmen konnte.
Das hätte ihr gefallen. Ja, es hätte ihr gefallen. Meine Darbietung und die Vorstellung, dass ich in Oslo gesessen und mühsam dieses Gedicht abgeschrieben hatte, aus dem Buch, das sie mir selber geschenkt hatte. Sie hätte in die Hände geklatscht und mich überall gestreichelt, wo mein Kostüm das zuließ, und sie hätte mir einen sucre d’or geholt und ihn zwischen meine lippenstiftroten Lippen geschoben. Ich hätte das Bonbon meine eine Wange ausbeulen und es dann von Oma in die andere schieben lassen. Wir hätten laut und ekstatisch zusammen gelacht, ohne dass sie meinen Blick losgelassen hätte.
G roßmutter hatte an fast allen ihren Habseligkeiten weiße Aufkleber mit Namen angebracht. Auf der Rückseite der Gem älde befanden sich lange Namenslisten, Kritzelschrift auf der Leinwand, lange Kolonnen aus durchgestrichenen Namen, und ganz unten der Name, der ihr im Moment der liebste war. Derselbe Name tauchte oft mehrere Male in einer Reihe auf. Sie konnte diesen Menschen um drei Uhr nachts zum Plaudern angerufen haben, und wenn er dann nicht reagierte, dann war sie zu dem ihm zugedachten Bild getaumelt, hatte den Namen gestrichen und einen neuen hinzugefügt. Mehrere der erwünschten Erben seien schon tot, meinte Ib. Sie lachten über die vielen Namen und hatten durchaus nicht vor, Rücksicht auf Omas Wünsche zu nehmen. Mutters Anteil an den Bildern wollte Ib mit der Fähre nach Norwegen schaffen lassen.
»Als ob wir nach Charlottenlund fahren und Käse-Erik ein Bild eines Reitpferdes überreichen würden!«, sagte Mutter und schwenkte das Gemälde.
»Der ist übrigens auch tot«, sagte Ib. »Die sind alle tot.«
»Wirklich? Käse-Erik mochte ich gern. Der gehörte doch zu den Normalen.«
Weiße Aufkleber fanden wir in Mengen, bereit zum Gebrauch. Sie hatte sie offenbar abgerissen und durch neue ersetzt, je nach Lust und Laune. Oder sie hatte einen kleinen Zettel beschrieben
und mit einem Gummiband befestigt, wie bei der goldenen Uhr, die doch nicht aus echtem Gold war. Für meine süße, kleine Therese.
Im Haus wimmelte es nur so von Gemälden. Als wir sie von den Wänden nahmen, zeichneten sich die Quadrate sauber und weiß auf den Tapeten ab. Mein Name stand auf keinem Gemälder ücken. Am Ende war nur noch ein Foto übrig, weder Mutter noch Ib hatten sich die Mühe gemacht, auf der Rückseite nachzusehen. Das Glas war zerbrochen. Das Foto sah dunkel aus, denn es hing neben der Gartentür, wo das Licht an ihm vorbei ins Zimmer fiel und ihm deshalb eine zwielichtige Belanglosigkeit verpasste. Man musste dicht davor stehen bleiben, um es zu bemerken, und das tat ich jetzt: Ich betrachtete den nackten Frauenleib, der vor drei dicht aneinander gedrängten schwarz gekleideten Frauen fast bis zum Zerbrechen gedehnt wird. Es war provozierend und schön, unverständlich und beunruhigend. Der schmale Rahmen war tiefrot, aus gesprungenem Kirschbaumholz. Ich nahm das Foto vorsichtig von der Wand und hielt es ins Licht.
»Was steht auf der Rückseite?«, fragte Lotte im Vorübereilen.
Ich drehte das Bild um. Therese. Keine Reihe von wütend ausgestrichenen Namen, sondern nur dieser eine: Therese. Ich sagte es laut.
»Dann gehört es dir«, sagte Lotte.
»Ist das wahr? Aber das müssen doch Mutter und Ib entscheiden« , sagte ich.
»Ib! Ruby! Therese kann doch sicher das Bild haben, das neben der Gartentür hängt? Das Pornofoto mit dem zerbrochenen Glas? Wo ihr Name hinten draufsteht!«
»Dieses Bild hab ich noch nie ausstehen können«, sagte Mutter mit Zigarettenrauch in der Stimme.
»Greif nur zu«, sagte Ib.
»Kann ich es wirklich haben?«
»Aber sicher, Therese. Die Hexe wollte es doch so.«
Es gehörte also mir. Mein Bild. Ich ging in die Küche, holte mir ein Messer und befreite das Bild von den Glasscherben und dem alten Rahmen. Es war auf Pappe montiert, ich würde es mit Leichtigkeit in mein Gepäck stecken können. Ein wenig Papier würde zum Schutz ausreichen.
Ich dachte an einen neuen Rahmen, es sollte zu Hause im Wohnzimmer hängen,
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