Das Erbstueck
wusste er nicht, er konnte nur erzählen, dass es sich um ein junges Paar mit kleinen Kindern handelte, und dass Großmutter behauptet hatte, sie stritten sich oft.
Ich konnte verstehen, dass Oma keine streitsüchtige Familie mit kleinen Kindern durch eine schüttere Hecke lugen lassen wollte, durch die Dornröschenhecke, von der sie sich wünschte, dass sie vor dem hundertjährigen Schlaf dicht und gewaltig hochwuchs.
Stian quengelte jetzt, seine kleinen Turnschuhe schleiften über den Boden. Ich nahm ihn auf den Arm. Er roch so, wie sich das gehört. Ich fühlte mich wieder warm und glücklich, als ich an ihm schnuppern konnte, und ich war froh darüber, dass ich es
getan hatte. Wir wollten doch nur in Omas Haus übernachten, mehr nicht, und ein wenig Wein trinken. Der Tag war zu Ende, und Lotte hatte die Betten für uns bezogen und im Badezimmer geputzt, daran dachte ich jetzt. Und daran, wie sehr ich meine Großmutter geliebt hatte. Ich hatte gerade die vollkommene Unberechenbarkeit geliebt, die niemals die auffälligste Eigenschaft einer Mutter sein darf. Die Rücksichtslosigkeit und die Freiheit, Begriffe, die ich damals nicht kannte, die ich aber beobachten konnte. Schroffe, lebhafte Bewegungen. Ihre Arme, die in vielen beweglichen Stoffen verschwanden, am liebsten in rosa Seide und Tüll.
Das Haus war kleiner als in meiner Erinnerung. Die helle, unebene Mauer niedriger. Omas Pergola, einst ihr großer Stolz, war überwuchert von wildem Wein, Efeu und blühenden Kletterrosen. Aber auch wenn sie überwuchert war (wie es sich für eine Pergola ja eigentlich gehört), wirkte sie doch vernachlässigt. Sie wies klaffende Löcher auf. Die Stängel wanden sich nicht richtig um die Balken. Unter einer Pergola müsste man bei strömendem Regen sitzen können, ohne nass zu werden, ohne anderen Schutz als den des Blattwerks. Jetzt hingen die Stängel fast bis auf den Boden, man konnte drauftreten. Ich nahm an, dass in der Pergola auch ein ganzes Spinnenheer hauste.
Ich wollte Stian sofort ins Bett bringen. Er würde mit mir auf dem breiten Sofa in dem kleinen Schlafzimmer hinter den Wohnzimmern liegen. Lotte hatte zwei von Großmutters Puppen auf die Bettdecke gesetzt. Ich hob die eine an mein Gesicht und nahm denselben Geruch wahr wie aus Omas Paketen, die sie bis zu Großvaters Tod nach Norwegen geschickt hatte. Es war immer derselbe Geruch, der Briefen, Geschenken, Packpapier anhaftete. Und dieser Puppe. Ich nieste dreimal hintereinander. Stian lachte schläfrig, mit geschlossenen Augen, seine Hände waren noch immer schmutzig, obwohl ich sie gewaschen
hatte. Sie waren viel zu schmutzig für die weiße Bettdecke mit den Tupfen in Rosa, Omas geliebtem Rosa. Ich ließ die Puppe los und nieste weiter. Mutter kam ins Zimmer.
»Du niest ja vielleicht«, sagte sie ohne Mitgefühl in der Stimme, es klang eher, als hätte ich einen Farbfleck auf der Nase, den ich im Spiegel übersehen hatte. »Hast du Heuschnupfen?«
»Ich hatte in meinem ganzen Leben noch keinen Heuschnupfen« , antwortete ich zwischen zwei Niesanfällen.
»Wieso kriegt Heu denn Schnupfen?«, fragte Stian und ballte seine kleinen Fäuste, wie Kinder das eben tun, eine locker geballte Faust auf jeder Seite seines Kopfes.
»Heu kriegt Schnupfen, wenn es regnet«, sagte Mutter, seine Oma, und lachte. Aber er war wohl schon eingeschlafen.
Ich nieste weiter und ging ins Wohnzimmer. Ich merkte, dass Ib mir ein Glas Rotwein reichte. Fast wäre es mir auf den Boden gefallen. Meine Tränen flossen. Mutter zählte mein Niesen und lachte. Als sie bei dreißig angekommen war, stellte ich das Glas ab und ging ins Badezimmer. Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, in die Augen, ich feuchtete ein Handtuch an, dachte daran, dass Geschirrtücher auf Dänisch »viskestykke« heißen, also Wischstück, und endlich war Schluss mit der Nieserei.
Meine Augen waren zu schmalen roten Schlitzen geworden. Ich drückte meinen Nasenrücken zusammen und dachte an damals, als Mutter von Großvaters Tod erfahren hatte, sie hatte Nasenbluten bekommen, wie ein Blitz aus heiterem Himmel hatte es eingesetzt. Oma hatte unsere Nachbarn angerufen. Wir hatten kein Telefon. Wir standen bei den Nachbarn in der Diele, und das Blut strömte nur so aus ihr heraus. Sie trug eine geblümte Kittelschürze, sie entdeckte das Blut erst nach einer ganzen Weile, die Nachbarin musste sie darauf aufmerksam machen.
Mein Gesicht sah im Spiegel weißgrün aus. Das lag sicher am Licht und am
Weitere Kostenlose Bücher