Das Erbstueck
ein Klumpen da. Die lag nicht auf dem Rücken.«
»Tiere liegen nicht so oft auf dem Rücken. Das liegt daran,
dass sie auf vier Beinen gehen. Menschen gehen auf zwei, deshalb liegen sie auf dem Rücken.«
Das hörte sich natürlich und logisch an, obwohl ich im Moment den Zusammenhang nicht durchschauen konnte. Aber Stian war mit dieser Antwort zufrieden. Seine Hand lag kurz und braun und krumm über der Armlehne des Sessels, in dem er saß. Er hielt es für selbstverständlich, dass sie dort lag und lebendig war, dass sie dort lag und auf ihn wartete, auf den Moment, in dem er beschloss, sie zu etwas zu benutzen.
»Du gehst aber nicht tot, Mama?«
»Nein. Spinnst du? Nie im Leben. Mama wird immer hier sein.«
Ich dachte, er würde darum bitten, in dieser Nacht in meinem Bett schlafen zu dürfen, aber das tat er nicht. Ich hätte mich gerne ganz und gar auf ihn konzentriert; mich seinem Schlaf angepasst, auf seinen Herzschlag gehorcht und gesehen, wie seine Augenlider im Traum zitterten. Aber stattdessen lag ich allein in der Dunkelheit, mit einem Schuldgefühl, das alle guten Erinnerungen an meine Großmutter überlagerte. Ich lag mit trockenen Augen in der Dunkelheit und spürte, wie überraschend warm es unter der Decke geworden war. Es war eine Wärme, die von meinem eigenen Körper stammte, eine Wärme, über die ich keine Kontrolle hatte. Endlich würde ich zu ihr fahren dürfen.
I ch wollte, dass Stian sich für den Rest seines Lebens an diese Reise erinnern könnte, und dass seine Erinnerungen ganz anders aussähen als meine. Ich wurde Zeugin seines äußerlichen Erlebens; er dagegen besaß den kleinen Körper, der zwischen Schopf und Fußsohle steckte. Ich erhielt meine Version des Verlaufs der Ereignisse, er die seine. Jede auf ihre Weise verließen unsere Geschichten die Wirklichkeit und wurden zu dem Widerschein. So wie meine Oma eine andere war als die Mutter meiner Mutter. So wie meine Liebe zu ihr existierte, vielleicht unverständlich für alle, außer für meinen Großvater.
Mutter hatte fieberheiße Augen, lachte laut und häufig und erlitt am Flughafen einen Anfall von Panik, weil wir unsere Pässe vergessen hatten, doch dann fiel ihr ein, dass wir ja nur nach Dänemark wollten. Sie entschuldigte sich damit, dass sie ein Gefühl im Leib habe, als solle es auf eine viel weitere Reise gehen. Während wir zum Einchecken Schlange standen, betrachtete ich Stian, sah, wie er ihre Hand suchte. Ich dachte daran, wie ich sie als Kind ebenfalls gesucht hatte, aber ich wusste auch, dass sie seine Hand auf eine ganz andere Weise anfasste, als sie das jemals mit meiner gemacht hatte. Und mich überkam plötzlich ein heißes Glücksgefühl, weil ich einen Sohn hatte und keine Tochter, weil ich keine künftige Mutter liebte und großzog, sondern einen Vater.
Über Väter weiß ich nämlich nichts, diese Rolle würde ich ihm also niemals verderben können.
Wir fanden unsere Plätze und schnallten uns an. Ich schloss die Augen und war plötzlich sechs Jahre alt, in neuen Ferienkleidern, mit der Puppe Liv in einem winzigen roten Koffer, unterwegs zu einer lebendigen Oma. Die Stewardess bemühte sich um das allein reisende kleine Mädchen, lächelte ihm beruhigend zu, versprach, es zum Kapitän zu bringen, wenn das Flugzeug erst seine Flughöhe erreicht hätte, und dann könnte es alle Knöpfe und Lämpchen sehen und feststellen, dass auch riesige Flugzeuge Scheibenwischer hätten.
Ich öffnete die Augen und sah, dass Stian auf dem Klapptisch ein Legoflugzeug zusammensetzte. Er hatte Limo und Aufkleber und einen SAS-Anstecker für seine Windjacke bekommen. Mutter saß neben ihm, auf der Gangseite. Sie trank mit gespreiztem kleinen Finger Kaffee, hatte die Augen zusammengekniffen und sagte, sie freue sich auf die erste Zigarette nach der Landung. Sie trug Gold mit türkisen Steinen in den Ohrläppchen. Diesen Schmuck hatte sie im Vorjahr in Marokko gekauft. Sie war zu Weihnachten hingefahren, um sich den ganzen Stress zu ersparen. Stian hatte geweint, als sie gefahren war, und das hatte ihr ein dermaßen schlechtes Gewissen verpasst, dass sie schon am ersten Tag in Marokko nur für ihn Kleider und Spielzeug gekauft hatte. Als sie am Heiligen Abend anrief, hatte Stian vergessen, dass sie verreist war, und glaubte, sie wolle sagen, dass sie auf dem Weg zu uns sei. Wieder brach sie unter ihrem schlechten Gewissen fast zusammen, als ich den Hörer übernahm, aber inzwischen hatte Stian sich schon in seine
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