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Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne B Ragde
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nahm Stians Hand. Er zog sie zurück. Er wollte unbedingt die Hände falten. Ich nahm noch einmal seine Hand, musste sie von der anderen losreißen. Immer wieder versuchte er, sie zur ückzuerobern.
    »Stillsitzen«, flüsterte ich wütend.

    Der Krankenhauspastor war groß und bleich und hatte abstehende wässrige Ohren. Ein weißes Viereck mitten auf dem schwarzen Kragen unter seinem Kinn wies als Einziges auf sein Amt hin. Seine Augen irrten hektisch an unseren Gesichtern entlang; an den Gesichtern dieser Menschen, die eine alte Frau ins Unbekannte schicken wollten. Er selber hatte sie wohl kaum lebendig erlebt. Nachdem er uns gemustert und vergeblich Tränenspuren gesucht hatte, faltete er die Hände, senkte den Kopf und schloss die Augen. So blieb er stehen, wie in ein lautloses
Gebet versunken. Ein Gebet, um uns zu trotzen. Ein Gebet für die Frau, um die es hier ging.
    »Na los!«, sagte Ib mit Lippen, die wie ein schmaler Strich aussahen.
    Der Pastor erwachte zum Leben, richtete einen ausdruckslosen Blick auf Ib und sagte dann: »Wir sind heute hier zusammengekommen, um Abschied zu nehmen von Amalie >Thalia< Jebsen, geboren am 12. Mai 1907, gestorben ...«
    »Danke. Wir wissen, dass sie tot ist. Dem Himmel sei Dank«, sagte Ib.
    »Also los, bringen wir es hinter uns«, sagte Mutter und rieb sich mit steifen Fingern über die Stirn.
    Der Pastor räusperte sich noch einmal, dann wurde sein Blick plötzlich warm, als er sah, dass die Frau mit dem violetten Haar weinte. Er lächelte ihr zu, ein professionelles Lächeln, das genau bis zu seinen Nasenlöchern reichte. Er lächelte so lange, bis die Violette laut schluchzte und Ib stöhnte: »O verdahammmmmt!«
    »Amen«, sagte Mutter.
    Nun nahm der Pastor einen kleinen Eimer, der am Sargende gestanden hatte, an dem Ende, wo vermutlich Omas Kopf lag. Es war ein weißer Plastikeimer mit einem blauen Spaten. Er wirkte restlos fehl am Platze.
    »So einen hab ich auch«, rief Stian.
    »Pst«, machte ich.
    »Aber ich hab so einen!«
    Mutter lachte laut und schrill.
    »Von der Erde bist du gekommen ...«, der Pastor ließ ein wenig Erde vor die Rosen auf den Sargdeckel rieseln.
    »Zur Erde wirst du zurückkehren ...«
    Er traf nicht genau. Stian sah interessiert zu, wie die Erde auf die weißen Fliesen fiel. Beim dritten Versuch ging noch viel mehr daneben.
    »Aus der Erde wirst du dereinst auferstehen.«
    »Gott behüte«, sagten Mutter und Ib im Chor, tauschten einen
Blick, lächelten und erhoben sich, öffneten die Tür und traten hinaus in den Regen. Stian glitt vom Stuhl und rannte hinter ihnen her. Ich ging zu den beiden Damen, gab jeder eine Hand und wartete, bis beide mich ansahen, dann flüsterte ich: »Friede deiner Seele, Thalia. Wir versenken deinen Staub in Liebe. «
    »Amen«, sagte die Violette. Die Taube nickte, als meine Lippen sich nicht mehr bewegten.
    »Jetzt wird gefeiert«, hörte ich Ib draußen rufen. Als ich aus der Kapelle kam, schwenkte er Stian durch die Luft, durch den Regen. Stian lachte ein wunderbares, perlendes Lachen, und ich wünschte, ich sei es, die ihn mit ausgestreckten Armen in den Himmel hielt, während er so sehr lachte. Mutter hatte sich eine Zigarette angesteckt. Lotte hielt ihre Brieftasche in der Hand und blätterte in den Geldscheinen. Die alte Dame zwischen den Grabsteinen war nicht mehr zu sehen. Der Mohn leuchtete wie blutige Becher vor dem vielen Grün. Die Lanzen der Ritter standen noch immer in Reih und Glied. Mutters Wolken aus Zigarettenrauch wurden von den Regentropfen durchlöchert.
    »Jetzt sollte dein Großvater hier sein«, sagte Mutter. »Es hätte ihm gefallen, wie wir von der alten Hexe Abschied nehmen.«
    »Mein Großvater hat sie aber geliebt«, sagte ich.
    »Fängst du schon wieder an«, sagte Mutter.

Die norwegische Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel Arsenikktårnet bei Tiden Norsk Forlag, Oslo.

    Dieses Buch erschien im btb Verlag bereits unter dem Titel Der Arsenturm.

    1. Auflage
Taschenbuchausgabe Februar 2013
    Copyright ©2001 by Anne B. Ragde
    Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2004 by btb Verlag, in
der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotiv: © plainpicture / Arcangel; © iStockphoto / Casper
Wilkens; © iStockphoto / Hedda Gjerpen
MI • Herstellung: sc
    elSBN 978-3-641-09898-8
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