Das Erlkönig-Manöver
Holland besetzt und Mainz zur wahren Bastion ausgebaut, erhellt, in welche Richtung er sich weiter auszudehnen gedenkt. Die deutschen Staaten sind untereinander zerstritten und nur auf den eigenen Vorteil bedacht und so unfähig, eine gemeinsame Armee zu erheben, dass jedes Fürstentum allein leichte Beute für Bonaparte ist. Ganz davon abgesehen, dass einige deutsche Fürsten, allen voran die Baiern, ehr- und vaterlandslos genug sind, gemeine Sache mit dem Despoten zu machen, in der Hoffnung, als Belohnung für ihren Verrat ein paar Krümel vom Kuchen davonzutragen. Die französischen Truppen standen schon einmal an der Fulda, kurz vor Eisenach, und ich habe wenig Interesse, sie je wieder dort zu sehen.«
»Nicht zuletzt steht der Korse in seinem eigenen Land sehr unsolide da«, ergänzte Stanley. »Und Kriege sind, wie wir wissen, eine formidable Art und Weise, innenpolitische Schwächen zu verschleiern und das Volk hinter sich zu vereinen.«
»Unsolide?«, fragte Voigt nach. »Ist das Volk denn nicht auf Napoleons Seite? Ganz Frankreich hat ihm zugejubelt, als die Krone auf sein Haupt gesenkt wurde.«
»Ganz Frankreich hat auch Ludwig XVI. zugejubelt, als die Krone auf sein Haupt niederging. Und ebenso laut haben sie gejubelt, als das Fallbeil aufs selbige Haupt gesenkt wurde. – Von allen Völkern ist, Ihr Pardon, Madame, vorausgesetzt, das Geschlecht der Franken wohl am wankelmütigsten in seiner Gunst und Missgunst. Aber Bonapartes Kriege haben die Franken viel Geld gekostet und das Land in eine wirtschaftliche Misere getrieben; und die Verschleppung und Ermordung des unschuldigen Herzogs von Enghien, dem er zu Unrecht vorwarf, ein Attentat auf sein Leben geplant zu haben, hat die Zahl seiner Feinde in Frankreich nur erhöht. Außerdem erinnern sich die Franken allmählich daran, dass ihre Revolution den Königsthron nicht hatte abschaffen sollen, nur um Platz für einen Kaiserthron zu machen. Die verhasste Aristokratie, die die Sansculotten mit der Guillotine ausgerottet wissen wollten, züchtet Bonaparte jetzt nach, indem er immer neue Anhänger in den Adelsstand erhebt.«
»Unser Anliegen ist es also«, erklärte nun der Holländer, »Bonaparte aus dem Wege zu räumen, mit welchen Mitteln auch immer, und durch einen Herrscher zu ersetzen, der bei den Franken populärer ist. Denn wenn wir Bonaparte vernichten, aber keinen adäquaten Nachfolger anbieten, geht die Krone lediglich an seinen Bruder oder seinen Stiefsohn über oder an ein andres Mitglied seiner neugeschaffenen kaiserlichen Familie.«
»Populärer als Napoleon?«, fragte Voigt. »Und wel cher Herrscher wäre dies?«
Da niemand in der Runde antwortete, tat es Carl Au gust. »Ludwig XVII.«
»Der Bruder des geköpften Königs? Der Comte de Provence?«
»Nein.«
»Der Comte d’Artois?«
»Nein, keiner seiner Brüder. Wir meinen tatsächlich Seine Majestät Ludwig XVII. den Dauphin von Viennois Louis-Charles, Herzog der Normandie, Sohn von Ludwig XVI. und Marie Antoinette und legitimer Nachfolger auf dem französischen Königsthron.«
Voigt sah zu Goethe und Goethe zu Voigt, aber offenbar war es den anderen ernst, sodass sich Goethe endlich zu Wort meldete. »Der Dauphin starb vor zehn Jahren in der Gefangenschaft. In der Familie hat allein seine Schwester Marie-Thérèse-Charlotte die Revolution überlebt.«
Als Sophie Botta ihm antwortete, tat sie dies mit einem entzückenden Akzent: »Sie täuschen sich, Herr von Goethe, oder vielmehr: Sie wurden getäuscht, wie auch der Rest der Welt getäuscht wurde, insbesondere aber seine Kerkermeister. Es stimmt, dass Louis-Charles krank war, als man ihn im Pariser Temple festhielt, aber es stimmt nicht, dass er an seiner Krankheit starb. Statt seiner starb ein andrer Knabe, ein krankes Waisenkind von gleichem Wuchs und gleichem Alter. Louis-Charles wurde in einer Verkleidung aus dem Temple entführt. Und als der falsche Dauphin auf dem Friedhof Sainte-Marguerite begraben wurde, war der echte längst in Sicherheit. Seine Flucht aus Frankreich führte ihn mit wechselnden Begleitern über Italien und England schließlich nach Amerika.«
»Bei allem Respekt, Madame Botta: Das ist eine Räuberpistole, wie ich sie in meinen Werken nicht wilder fabulieren könnte. Erlauben Sie mir gnädigst, dass ich Ihnen kein einziges Wort von diesem bourbonischen Märchen glaube.«
»Alle, die den Dauphin kannten und die terreur überlebt haben, werden bezeugen können, dass es der leibhaftige Sohn Louis’ Seize
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