Was ist Gott?: Das Buch der 24 Philosophen (German Edition)
Vorwort
Der Text, den ich hier zusammen mit der ersten deutschen Gesamtübersetzung und Erklärung vorlege, Das Buch der 24 Philosophen , ist, umgangssprachlich ausgedrückt, wohl das Originellste, um nicht zu sagen: das Verrückteste, was sich in einer mittelalterlichen Handschriftensammlung finden lässt. Der Text ist exzessiv eigensinnig, ein Ausbund spekulativer Theosophie. Er hat intensiv fortgewirkt in der Geschichte der Philosophie, der Theologie und der Naturwissenschaften. Dabei ist er kurz, andeutend und dunkel; er nährt das Denken und beflügelt die Phantasie. Ihr überlasse ich mich für einen Augenblick. Ich lasse mir Zeit mit gelehrten Korrekturen und stelle mir einfach einmal vor:
Ein orientalischer Palast, umgeben von Gärten und Wasserspielen, farbig und feinziseliert wie die Alhambra. Hier residiert, denke ich mir, der Kalif, gebildet und neugierig wie Saladin, aber knapp an Geld und vor allem an Zeit, eben wie Saladin. Aber er will wissen, was Gott ist. Er weiß, dass es darüber Streit gibt, der das Zusammenleben zerstören kann. Er ruft die Philosophen seines Landes zusammen, und jeder soll sagen, was bei seinem Nachdenken herausgekommen ist. Er kennt seine Philosophen; er weiß, dass sie gerne viele Worte machen. Ihn drängen Regierungsgeschäfte. Deswegen befiehlt er, jeder Philosoph dürfe nur mit einem einzigen Satz antworten, den sein Schreiber notiert.
So oder ähnlich könnte Das Buch der vierundzwanzig Philosophen zustande gekommen sein. Stammt es aus der arabischen Welt? Kommt es auf dem Weg über die Araber aus dem alten Griechenland? Jedenfalls las man im lateinischen Westen seit etwa 1200 die vierundzwanzig Gottesdefinitionen in lateinischer Sprache, oft zusammen mit einem wortkargen, fremdartig klingenden Kommentar. Diesen Kommentar und die Definitionen lege ich hier vor, übersetzt und erklärt.
Über ihre Herkunft werde ich die Zahl der Hypothesen nicht vermehren. Ich suche ihren Inhalt: Was war da gedacht? Zu ihren sog. ‹Quellen› gibt es die Untersuchungen von Clemens Baeumker, Dietrich Mahnke, Alexandre Koyré, Françoise Hudry, Paolo Lucentini und Zeno Kaluza.[ 1 ] Der Text selbst zitiert nichts. Daher sind alle Quellenhinweise hypothetisch. Ich werde nicht weiter in diese Richtung argumentieren.[ 2 ] Ich beachte dankbar ihre Hinweise, aber verhalte mich deskriptiv und versuche, den Gedanken jeder These herauszuarbeiten. Ich vermeide, bei den ersten beiden berühmten Sprüchen zu enden und die große Wirkungsgeschichte zum dritten Mal zu erzählen. Mir geht es um die Philosophie der vierundzwanzig Denker. Was sagen sie? Zeigt ihr Text eine einheitliche Konzeption oder nicht?
Die genannten Spezialisten, vor allem Dietrich Mahnke und Alexandre Koyré, haben die außergewöhnliche Wirkung des Buchs der 24 Philosophen für Kosmologie und Wissenschaftsgeschichte der frühen Neuzeit belegt. Sie haben fundamentalphilosophische Fragen zurückgestellt und kaum oder gar nicht beachtet, dass es in dieser Wirkungsgeschichte im 14. Jahrhundert zu einer Verzweigung kam, deren Gründe und Anlässe die intellektuelle Situation ihrer Jahrzehnte treffend beleuchtet; ich untersuche sie bei Meister Eckhart und Thomas Bradwardine. Danach werfe ich einen Blick auf die kontroverse Forschungsgeschichte und komme damit in die Gegenwart zurück. Ich schließe mit einer kulturhistorischen Überlegung zu ‹Gott im Mittelalter›.
Das Buch der 24 Philosophen ist eines der schönsten und folgenreichsten Dokumente der europäischen Theosophie. Es hat spekulativ-imaginativ die Kosmologie der frühen Neuzeit angeregt; es lehrte das Denken des Unendlichen; es sprach die Einsicht aus, Nichtwissen sei das wahre Wissen. Das kurze Buch hat Meister Eckhart, Nikolaus von Kues, Giordano Bruno und Gottfried Wilhelm Leibniz beeinflusst. Die zweite der vierundzwanzig Definitionen bringt das Bild der unendlichen Kugel, deren Mittelpunkt überall ist. Dieser Metapher stand eine fast unendliche Karriere bevor; sie förderte neue Raumkonzeptionen und fand den Weg in die Literatur, die Kosmologie und Philosophie der Moderne. Mit dieser Kugel spielten Poeten-Philosophen wie Jorge Luis Borges und Harry Mulisch.
Einige Autoren des Mittelalters haben Das Buch der vierundzwanzig Philosophen Hermes zugeschrieben. Sie erhöhten damit sein Prestige und hielten den fremdartig-alten Eindruck fest. Hermes der Dreimalgrößte galt als der erste Weise in grauer Vorzeit. Von ihm, sagte man, hätten sowohl Moses wie Platon ihre
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