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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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nachdrücklich, daß man es ihm von den Lippen ablesen konnte. Nachdem er die Tür hinter ihm geschlossen hatte, sah Maître Bellaffaire, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, dem früh verwaisten jungen Mann durch seine großen, gut vergitterten Fenster nach. Die massige, lautlos dahinschreitende Gestalt, die man nicht einmal atmen hörte, hatte ihn tief beeindruckt.
    Auf dem kleinen Platz vor der Notariatskanzlei plätscherte ein Brunnen im Schatten von Platanen. Séraphin ging auf ihn zu, umfaßte mit beiden Händen das kupferne Rohr und hielt den Kopf unter den Wasserstrahl. Dabei rutschte sein Trikot hoch bis unter die Achseln. Die Muskeln über seinen Rippen schwangen wie Saiten, andere spannten sich über seinen flachen Bauch. Als er sich nach vorn beugte, um seinen Mund der wasserspeienden Fratze darzubieten, enthüllte das verrutschte Trikot sein hervorstehendes Brustbein.
    Auf der anderen Seite des mit erotischen Szenen geschmückten Brunnenpfeilers ließ ein junges Mädchen seinen Wasserkrug überlaufen. Voll Bewunderung und mit aufgerissenen Augen blickte sie in die Helle dieses Gesichts mit den geschlossenen Augen, dessen weitgeöffneter Schlund das Wasser in sich aufnahm.
    Der alte Burle hatte soeben ein Stück Kautabak zwischen die letzten ihm verbliebenen Zähne geschoben und betrachtete fachmännisch die kraftvollen Bewegungen Séraphins, der gerade seine Ramme hochwuchtete. Sie waren beide dabei, die Kurve an der Kanalbrücke auszubessern, wo der Straßenbelag von den schweren Vollgummireifen der Lastwagen ständig beschädigt wurde.
    Es war bereits Sommer, doch an diesem Abend stieg in der Ferne über der Durance kaum merklich ein düsterer Staub auf, der keine Wolkenform annehmen wollte. Er war gestaltlos und leicht, und man mußte schon lange hinsehen, um zu bemerken, daß er das Blau des Himmels verschwinden ließ und sich langsam vor die Sonne schob.
    »Junge, da kommt bald was runter«, prophezeite der alte Burle, »wir sollten uns besser mal auf die Baracke zubewegen!« Séraphin stellte seine Ramme ab und drehte sich zu ihm um:
    »Und wenn Monsieur Anglès vorbeikommt? Er hat uns eigens gesagt, daß es eilig ist mit dieser Kurve …«
    »Ach, hör mir auf mit Monsieur Anglès, immer Monsieur Anglès! Der kriegt’s ja nicht ab. Wenn ich mich nach so ’nem Guß vierzehn Tage nicht rühren kann, ist dem Chef damit auch nicht geholfen!«
    Séraphin antwortete nicht und arbeitete weiter, während Burle ihm gemächlich ein, zwei Schippen voll Schotter brachte.
    »Diese Laster mit ihren Vollgummireifen«, schimpfte er, »die bringen uns noch ins Grab!« Er stieß seine Schaufel in den am Straßenrand aufgehäuften Kieshaufen, spuckte ein wenig Tabaksaft in die Hände und begutachtete wieder mißtrauisch den Himmel. »Junge, Junge, wenn die Felsen von Les Mées diese Farben haben … Das gibt ein Gewitter, das haut alles zusammen! Du wirst schon sehen! Da kommt was runter!«
    Sein ausgestreckter Arm zeigte auf jene Reihe von Felsen, die man les Pénitents, die Büßer, nennt; Büßer, die aussehen, als seien sie auf ihrem Pilgerzug kurz vor Erreichen der Durance durch einen bösen Fluch in Stein verwandelt worden. Dort standen sie, auf der anderen Seite des Flusses, ragten hoch über dem Dorf auf, und das düstere Aussehen dieser zu Stein gewordenen Mönche mit ihren spitzen Kapuzen verhieß dem alten Burle nichts Gutes.
    »Schau mal, Junge! So wirst du sie selten sehen, die Mées- Felsen! Wie heißt du noch?«
    »Séraphin.«
    »Séraphin? So so, Séraphin heißt du also?« Der alte Burle hielt inne und vergaß einen Moment lang, seinen Tabak zu kauen. Sein Arm, der auf die Büßer-Felsen zeigte, blieb ausgestreckt, und er schien zu überlegen, woran ihn dieser Vorname erinnerte. Aber er hielt sich nicht lange mit Nachdenken auf. Seine Aufmerksamkeit richtete sich voll und ganz auf das Unheil, das sich da um sie herum zusammenbraute.
    »Schau dir nur die Bléone an, Séraphin. Das sieht gerade so aus, als ob da Staub fließt statt Wasser. Es ist schon über dem Couar! Das zieht zu uns, in fünf Minuten …« Er brachte seinen Satz nicht zu Ende. Über den Korbweiden auf den Inseln in der Durance blitzte es, und sofort danach hörten sie einen eigenartigen Laut, als ob man ihnen eine Karre Flußkies direkt in die Ohren schüttete, um sie taub zu machen.
    »Schnell, Séraphin, hauen wir ab!«
    Burle warf seine Schaufel auf den Kieshaufen und ergriff die Flucht. Aber es war schon zu spät.

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