Das ermordete Haus
Spuren von über sechzig Jahren Leben, aber der Ring war immer noch so, wie ihn Célestat und Clorinde heimlich zum achtzehnten Geburtstag ihrer Kleinen ausgesucht hatten.
»Ach, das ist es«, hat sie zu mir gesagt, » das wollen Sie sehen.« Sie ließ ihr Strickzeug und ihre Zeitung auf dem Klappstühlchen liegen. Ein wenig hinkend, aber immer noch flink, stieg sie die Terrassentür vor mir hoch. Dann hat sie die Fliegengittertür aufgemacht und ist auf der schönen, gewachsten Holztreppe ein Stockwerk hochgestiegen. Das Haus verfügte über eine vollkommene Akustik. Es roch nach Nußwein und Bohnerwachs. Marie schubste mich in einen Raum, in dem schwere Möbel standen. Und sofort fiel mein Blick auf die Uhr. Man hatte das Werk in ein helles Gehäuse eingesetzt, das mit einem Blumenstrauß bemalt war. Der Name des Herstellers prangte immer noch in elegant geschwungener Kursivschrift auf dem Zifferblatt: Combassive, Abriès-en-Queyras.
»Sie geht auf die Minute genau«, sagte Marie voller Stolz, »weder vor noch nach! Und da, schauen Sie hin!« Mit ihrem kurzen Arm zeigte sie auf einen Platz am Fuß der Standuhr, neben dem schweren Renaissancetisch, wo eine blitzblank polierte Wiege stand. Darin befanden sich zwei Töpfe mit prächtigen Schildblumen. Am Kopfende strahlte noch immer der Stern der Hautes-Alpes, eine Art Rosette, die überall in den kargen Hochtälern die Menschen vor Unheil schützt.
»Ich bin mir sicher, Marie, daß Ihr Herz ebenfalls auf die Minute genau geht. Ich bin mir sicher, daß es wie der Aquamarin- ring, der Ihnen so gut steht, keinen Kratzer abbekommen hat. Also sagen Sie mir: Wer war Séraphin wirklich?«
»Ah!« rief sie aus und machte eine lange Pause zwischen diesem »Ah« und dem Rest der Antwort. »Das wollten Sie also wissen? Und dazu mußten wir beide allein sein?«
Ich nickte.
»Wußte er denn selbst, wer er war? Manchmal … manchmal frage ich mich, ob er sich nicht einfach auf die Erde verirrt hatte und hier unten ständig kläglich schrie. Einen Blick hatte er … wie ein angebundenes Tier, dessen Augen riefen: Bindet mich los. Das war Séraphin. Wie hätte ich armes Menschenkind ihn festhalten sollen? Weg ist er, über alle Berge … Mich hat man dann mit zwanzig mit einem Mann verheiratet, wie ich keinen besseren hätte finden können … Eine Seele von Mensch … Mit dreißig hatte ich meine vier Kinder. Was soll man da noch sagen? Ja, schließlich ist es auch bis zu mir gedrungen. Er hat so lange mit dreißig Meter hohen Tannen den Torero gespielt, bis er endlich bekommen hat, wonach ihm so lange der Sinn stand. Koloß gegen Koloß, und am Ende war der Baum der Stärkere. Er hat ihn unter sich begraben. Zumindest hat mir das einer von da oben aus dem inneren Tal erzählt, als ich ihm Birnen abgekauft habe für den Winter. Er liegt in Enchastrayes begraben, hat er mir erzählt, unter den Brombeerranken des alten Friedhofs. Ich glaube zumindest, daß er da liegt. Ich glaube zumindest, daß er es ist …
Und als dann mein armer Mann gestorben ist, da wollte ich dorthin, nach Enchastrayes. Ich wollte dem armen Teufel wenigstens einen Grabstein setzen lassen, damit die Leute merken sollten, daß sich noch jemand an ihn erinnert. Danach wollte ich dann jedes Jahr zu Allerheiligen hingehen und ihm Blumen aufs Grab legen. Das wäre ein schöner Ausflug für mich gewesen. Kennen Sie Enchastrayes nicht? Sehr hübsch, besonders im Herbst.
Nun ja, dann hab ich ihn gesucht, den alten Friedhof … Die Brombeerranken … Du meine Güte … Schließlich sind mir ganz in der Nähe zwei Pilzsucher begegnet, zwei in einem Alter, in dem man sich den Rücken hält, und sie haben sich den Rücken gehalten. Die waren noch nie aus der Gegend herausgekommen. Mit Gesten und Worten habe ich ihnen zu verstehen gegeben, was das für ein Kerl war, der Séraphin, und sein Gesicht habe ich ihnen mit meinen Händen vorgezeichnet und mit meinen Augen, die damals noch gut waren. Sie haben in ihrem Gedächtnis herumgesucht. Alle kräftigen Burschen, die sie hatten sterben sehen, haben sie vor ihrem inneren Auge Revue passieren lassen. Nichts. Ich mußte mich täuschen. Wenn es der war, an den sie dachten, dann lag der nicht auf dem alten Friedhof begraben. Ihr Séraphin, das wird wohl eher der gewesen sein, der beim großen Erdrutsch von 1928 allein im Wald war. Man glaubt, daß er dabei verschüttet wurde. Man glaubt es. Denn letztlich, denken Sie doch mal … Hunderttausende von Kubikmetern! Was
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