Das ermordete Haus
Kirschgroße Hagelkörner schlugen ihm um die Ohren.
»Nach da oben!« schrie er und zeigte auf vier hohe Zypressen, die sich im Wind hin und her bogen und plötzlich von der Dunkelheit verschluckt wurden. Séraphin legte seine Ramme auf dem Bankett ab und rannte seinem Kollegen hinterher.
»Warten Sie doch auf mich! Wo rennen Sie denn hin?«
Doch Burle rannte, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen, den Hang hinauf. Ein Kugelblitz trat ihm buchstäblich in den Hintern. Er hüpfte auf dem Boden hinter ihm her und machte dabei dieses gräßliche Geräusch eines über Kiesel gezogenen Blechtopfs, das nur diejenigen kannten, die so etwas schon einmal erlebt haben. Vom Luftzug angesogen verschwand er im grünen Gewölbe der Steineichen. Er kreiste die beiden Männer geradezu ein, die unter der Flut von Hagelkörnern, die ihnen die Ohren zerfetzten, halb erstickt nach Luft schnappten. Sie wagten nicht zu schreien, obschon sie gute Lust dazu gehabt hätten.
Burle stand schon oben vor den Zypressen, die ihm die Richtung gewiesen hatten und die sich im Sturm tief nach unten bogen. Er trat auf die gewölbten Steinplatten eines alten Fuhrhofs. Er versuchte, sich zurechtzufinden. Zerfallene Schuppen, deren Überreste auf einen Kutschenfriedhof und einige landwirtschaftliche Geräte gestürzt waren, konnten ihnen keinen Schutz bieten. Burles Blick fiel auf eine fensterlose Wand mit einer festen Eichentür, die auch unter seinen Fußtritten nicht nachgab.
»Séraphin! Wo zum Teufel bleibst du? Komm doch her, verdammt noch mal!«
Er sah ihn wie einen Ertrinkenden aus der Hagelflut auftauchen; die blonden Haare hingen ihm in langen Strähnen um den Kopf, doch auch inmitten dieser Sintflut blieb er bei seinem gemächlichen Gang. In diesem Moment schlug ein Blitz so dicht neben ihnen ein, daß der gleich darauffolgende Donner sie betäubte. Und im gleißenden Licht des Blitzes erschienen Burle plötzlich die wahren Gesichtszüge Séraphins, die nun ganz anders hervortraten als bei gewöhnlichem Tageslicht.
»Gott im Himmel!« stieß er hervor.
Doch wenn man seit fünf Minuten mit Hagel bombardiert wird, wenn die Hagelkörner in den offenen Kragen gefallen und von dort unter dem wollenen Gürtel hindurch bis in die Unterhose gerutscht sind, wo sie ein Nest aus Eis bilden, das den Bocksbeutel umschließt, dann ist man kaum bereit, gewisse Gedanken zu Ende zu führen, die einem durch den Kopf schießen.
»Auf was wartest du, verdammt noch mal?« schrie Burle.
»Komm endlich her und hilf mir, die Tür einzutreten!«
Riesengroß und unbeweglich stand Séraphin vor ihm. Unter Hagelkörnern halb begraben, starrte er die Tür an. Sie war mit zwei alten schwarzen Wachssiegeln verschlossen, die durch ein gut erhaltenes Stück Hanfseil verbunden waren. Vor allem aber bemerkte Burle, daß ihm Séraphin einen großen, alten, verbogenen und abgegriffenen Schlüssel hinhielt.
Er nahm ihn, steckte ihn ins Schloß und öffnete die Tür. Die Siegel brachen mit einem Geräusch von reißendem Stoff. Burle stürzte durch die weit geöffnete Tür ins Haus und wandte sich um. Séraphin stand wie festgewurzelt auf der Schwelle, trotz der Hagelkörner, die ihm um die Ohren schlugen.
»Los, auf was wartest du?« schrie Burle ihn an. »Willst du dir den Tod holen? Los, rein mit dir!«
»Nein«, sagte Séraphin mit erstickter Stimme.
Burle warf sich auf ihn und brachte diese unbewegliche Masse Mensch in Bewegung. Mit Hilfe von Fußtritten und Fausthieben gelangte Séraphin in die dunkle Höhle. Er ließ es über sich ergehen wie eine große, ungelenke Marionette. Im Inneren empfing ihn ein Geruch von Salz, erkalteter Asche und Schmiedeeisen, der ihm das Gefühl gab, nach Hause zurückgekehrt zu sein. An manchen Stellen roch es auch nach geronnener Milch und gemahlenem Bohnenkraut.
»Ich heiße Séraphin Monge«, murmelte Séraphin vor sich hin. »Na und?« sagte Burle, der sich das Gesicht mit seinem Taschentuch trockenwischte. »Glaubst du, das hilft dir gegens Verrecken? Zieh deine Jacke und dein Hemd aus, am besten dein ganzes Zeug. Laß mich mal sehen, ob da noch Feuerholz ist … Wart, ich will doch mal sehen, ob meine Streichhölzer trocken geblieben sind … Zum Glück habe ich einen Tabaksbeutel aus Gummi. Ha! Sieh mal an! Schmeiß doch mal dieses Reisigbündel dort auf den Aschenhaufen; das wird schon brennen. Du mußt wissen, ich hab’s in meinem verdammten Leben schon dreimal erlebt, daß jemand mitten im Juli an doppelseitiger
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