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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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war, lebhaft hervortreten. Séraphin war völlig in ihre Betrachtung versunken.
    »Sie haben nur die Leichen mitgenommen«, sagte Burle, »und dich haben sie weggebracht. Abgesehen von dem fingerdicken Staub hat alles genauso ausgesehen, als ich das letzte Mal hier war, vor dreiundzwanzig Jahren – genausoalt bist du jetzt.«
    Sein Arm beschrieb einen Kreis. »Allerdings«, sagte er, »damals war alles sauber, mit Verlaub! Bei der Girarde, bei der war alles spiegelblank. Alles, was recht ist, das war eine tüchtige Frau!« Er hielt ihm die Faust mit ausgestrecktem Daumen unter die Nase.
    »Die Girarde?« hakte Séraphin nach.
    »Deine Mutter«, gab Burle zurück.
    »Meine Mutter«, sagte Séraphin vor sich hin, »meine Mutter …«
    Das Wort floß langsam aus seinem Mund, und er wiederholte es mehrere Male, als zähle er bedächtig ein Goldstück nach dem anderen auf den Tisch.
    Seine Beine gaben nach, und er mußte sich auf die Platten aus dem Gemüsegarten setzen, die an der Ecke des Kamins aufgestapelt lagen. Burle stand noch, und so konnte er ihm endlich die Hand auf die Schulter legen.
    »Hat sich denn niemand getraut, es dir zu sagen?« fragte er.
    »Nein, niemand«, antwortete Séraphin.
    »Willst du’s wissen?« fragte Burle.
    »Ja«, antwortete Séraphin.
    »Also, dann erzähl ich’s dir …«
    Sein Blick fiel unvermittelt auf einen alten Sessel mit einer Sitzfläche aus Strohgeflecht, den er, so wollte es ihm scheinen, bisher noch gar nicht bemerkt hatte, obwohl er direkt vor dem Kamin stand. Der Sessel war durchgesessen und machte den Eindruck, als ob noch jemand in ihm säße. Von ihm ging eine Ausstrahlung aus, der man sich nur schwer entziehen konnte. Als Burle sich schließlich auf dem knirschenden Strohgeflecht niederließ, hatte er das deutliche Gefühl, sich auf jemanden zu setzen, und ein erneuter Donnerschlag ließ ihn vor Schreck hochfahren. Schnell begann er zu sprechen, um sein Unbehagen abzuschütteln.
    »Das war so«, begann er. »Fuhrleute, die gerade aus Embrun ankamen, haben mich hergeholt. Ich arbeitete an der Straße; seit vierzig Jahren kenne ich nichts anderes. Sie kamen angerannt, und dabei haben sie auch den Bautrupp aufgescheucht, der hier die Bahngleise legte. So kam es, daß wir etwa fünfzig Leute waren, die sich hier, vor dieser Tür da, versammelten, stumm und wie festgewurzelt. Und drinnen war an diesem Morgen nur zweierlei zu hören: das Ticken der Uhr, die immer noch ging, und das erbärmliche Schreien eines Säuglings: Das warst du, du hattest Hunger. Woran ich mich sonst noch erinnere, das war der Geruch. Seit diesem Tag, Junge, kann ich keinem mehr beim Schweineschlachten helfen. Die Luft war erfüllt vom Geruch nach Blut, nach warmem Blut, wie im Krieg, du kannst dir das nicht vorstellen …«
    »O doch«, seufzte Séraphin, »ich kann.«
    Burle schaute ihn verwundert an. »Ach ja, richtig«, sagte er, »natürlich, den Geruch, den kennst du ja jetzt. Aber ich, ich war nicht im Krieg, ich war übrigens noch nie im Krieg. Also ich kannte ihn nicht, ich wußte nicht, wie Blut aussehen kann, welche Farbe es hat, wenn alles voll ist damit. Überall war Blut! Überall, wo du heute Staub liegen siehst, überall am Boden waren Blutpfützen, Spuren von Füßen, die durch das Blut gewatet waren, Blut an der Truhe, Blut an der Schranktür. Jetzt weißt du, warum ich vorhin … Schau mal, die Uhr! Wenn du den Staub abwischst, siehst du überall noch die schwarzen Flecken! Und dann …« Burle erhob sich aus dem Sessel und betrachtete ihn mißtrauisch. Er zeigte mit dem Finger auf den Platz, den er eben noch eingenommen hatte. »Da«, sagte er, »da, wo ich gerade gesessen habe, saß der Papé, der alte Opa. Das war der Vater deiner Mutter. Seine Augen standen weit offen. Das Blut … es sah aus wie ein großer roter Bart über seinem Brustlatz. Als ob ihm jemand zur Abendsuppe eine blutrote Serviette umgebunden hätte.« Mit einer Handbewegung deutete er die Umrisse des Bartes an, so wie er ihn in Erinnerung hatte. Er schluckte geräuschvoll, als ob ihm etwas in der Kehle steckte. »Und dort«, führ er leiser fort, »neben ihm an der Wand, mit einer Hand in der Asche, lag Moungé l’Uillaou, Monge der Blitz, denn so flink war er! Klein, mager, knöchern … aber hart im Nehmen … Ein schlauer Teufel … Wenn man den in die Luft geworfen hätte, wäre er an der Decke hängengeblieben, so krumm waren seine Finger vor lauter Geldzählen … Der kannte kein Mitleid«, fügte

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