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Das Erste, was ich sah

Das Erste, was ich sah

Titel: Das Erste, was ich sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Markus Gauß
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standen still, bis ein Polizist das verwaiste Moped aufstellte, über die Kreuzung schob und an der Wand der Bäckerei anlehnte.
    Die Bäckerei war in einem hohen, dunklen Haus untergebracht, das vom Dach bis zum Erdgeschoß mit braunen Ranken und grünen Blättern bewachsen war. Es war ein Ort der Versuchung und der Beschämung, denn gleich mir konnten viele Schüler an dem nach frischem Brot duftenden Laden nicht vorbei, ohne ihn, immer der Nase nach, zu betreten. 62 Groschen kostete das günstigste Gebäck, dafür mussten drei Münzen aufgetrieben werden, die kupferne mit den fein gezackten Rändern, auf der 50 stand und bei der in die Null ein kleines Veilchen ragte, das hauchdünne, fast gewichtlose silberne Plättchen, das zehn Groschen wert war, und der winzige, rostig beschlagene Knopf, der im Lebensmittelgeschäft Pfaff bei uns in der Siedlung gar nicht mehr ausgegeben wurde, sondern durch ein Stollwerck, das die Kinder der Kunden statt der zwei Groschen an Retourgeld erhielten, ersetzt worden war. Immer wieder haben wir es probiert, die Bäckerin, eine laute, resolute Frau, gnädig zu stimmen, indem wir ihr 55 oder sechzig Groschen in die aufgeklappte, von der Arbeit rot und rissig gewordene Hand leerten; dies wurde stets mit einer Tirade entgolten, in der wir als Bettler, als Betrüger niedergemacht und aus dem Geschäft gescheucht wurden, beschämt für den Tag, noch ehe wir die Schule betreten hatten.
    Dort werkte an der Tafel Frau Heilgartner, die fast immer gutgelaunt war und niemals weinen musste, wie es der Frau Lehrer Wolferseder so oft widerfahren war. Mit heller Stimme rief sie die Kinder, die ihre Hausaufgabe verpatzt oder eine Frage falsch beantwortet hatten, an die Tafel und ließ den Zeigestab pfeifend auf ihre Handflächen niedersausen. Außer den Schlägen, die andere erhielten, hatte ich wenig zu fürchten von ihr, denn meine Hausaufgaben wurden von der Mutter kontrolliert und unerwartet zugeworfene Fragen haben mich nie aus der Fassung gebracht. Aber jede Stunde waren es ein paar und darunter zwei, denen das alle Tage blühte, die ihre Arme ausstrecken mussten und nicht, feige auch noch, unter dem Stab wegzucken durften, eine Strafe, die ihre Handflächen mit roten, in den Pausen von den Mitschülern begutachteten Striemen versah. Frau Heilgartner war nicht jähzornig, sie schlug geradezu unbeteiligt und wie pflichtgemäß, weil sie Begriffsstutzigkeit eben nicht ausstehen konnte und die bockigen Schüler lehren wollte, sich nicht dumm zu stellen.
    Drei Mal wöchentlich wurden wir in Zweierreihen in den Keller geführt, wo sich der kleine, nach Leder, Schweiß, Bohnerwachs riechende Turnsaal befand. In der Ecke standen hohe Böcke mit braunem Ledersattel, die wir in die Mitte schoben und über die wir mit gespreizten Beinen sprangen; die Längsseite war mit einer breiten Sprossenwand versehen und an der Schmalseite ragten bis zur Decke die vier Kletterstangen empor, auf die manche wieselflink hinaufgelangten, andere ächzend gerade ein, zwei Meter bewältigten und von der Lehrerin als »Mehlsäcke« angefeuert wurden. Am lustigsten war es, wenn die Turngeräte verräumt waren und wir in zwei Gruppen eingeteilt wurden, die sich beim
Völkerball
abschießen durften.
    Einmal traf mich ein scharf geworfener Ball in den Unterleib, sodass ich zusammensackte und mich jammernd in die Ecke verzog. Weil ich dort kauernd verharrte, schnappte mich Frau Heilgartner an den Armen, dass ich nicht anders konnte, als mich aufzurichten, und in diesem Moment … In diesem Moment, als uns alle beobachteten, hebt sie mit der einen Hand den Bund meiner schwarzen Turnhose an und fährt mit der anderen tief in diese hinein, um sich mit einem Griff an die schmerztauben Organe zu überzeugen, dass alle von ihnen noch vorhanden waren. Ich sehe die Buben, die in ihrem Erschrecken grinsen, und die Mädchen, die in vorgetäuschtem Wissen mitleidig lächeln, und ich sehe in das fröhliche Gesicht der Frau Heilgartner mit den vollen Lippen, dem Muttermal im Mundwinkel, ihrer runden Zufriedenheit. Ich begann sie sofort und so heftig zu hassen, wie ich nur zu hassen vermochte, aber trotzdem wurde sie steinalt.

ICH WOLLTE NICHT ZU IHR SCHAUEN und konnte nicht anders, als es trotzdem zu tun. Die Bänke in der Klasse waren in drei Reihen aufgestellt, ich saß in der vordersten Bank direkt bei der Tür, Marita hingegen, klein, pummelig und schön, war in die erste Bank neben dem Fenster gesetzt worden. Ihre Haut war hellbraun,

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