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Das Erste, was ich sah

Das Erste, was ich sah

Titel: Das Erste, was ich sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Markus Gauß
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und hob den Hörer in missbilligendem Ton ab, denn zu dieser Zeit rief man nicht mehr an, wenn man Manieren hatte. Je später es aber klingelte, umso gefährlicher klang es, der Frieden des Abends war nur ein trügerischer gewesen und wurde vom Klingeln zerrissen. Die Mutter ließ alles stehen und liegen und stürzte zum Telefon, während mein Bruder und ich den Atem anhielten, vom Buch aufblickten oder das Einschlafen unterbrachen und lauschten, was ihrem gehauchten Hallo folgte. Nach neun stürmte sie in Erwartung schlechter Nachrichten, vernichtender Meldungen zum Apparat, und auch wenn es fast nie vorkam, in all den Jahren vielleicht drei, vier Mal, dass wir über das Telefon von einem Unglücksfall unterrichtet wurden – vom Tod des Onkels Hugo in Amerika, vom Verkehrsunfall der Schwester in Italien –, fürchteten wir immer, wenn es nach neun Uhr klingelte, die Dinge würden endlich ihre schicksalhafte Wendung ins Unheil genommen haben.
    Obwohl es immer die anderen waren, denen Freunde oder Verwandte wegstarben, waren wir überzeugt, dass keiner Familie größere Gefahr drohte als unserer. Passierte wirklich etwas Schlimmes, geriet niemand außer Fassung, denn Unglück, das eintrat, war nicht gefährlich. Was Mutter fürchtete, war das Unglück, das geschehen konnte, nicht jenes, das geschah. In ihrem Leben war es schon einmal viel schlimmer gekommen, als sie sich das vorgestellt hatte, darum stellte sie sich jetzt alles viel schlimmer vor, als es zu kommen pflegte. Kam es aber dennoch so schlimm, wie sie es befürchtet hatte, wurde sie ganz ruhig und ergriff unverzüglich die Maßnahmen, die in einem solchen Unglücksfall eben zu ergreifen waren.

ABHÄRTUNG IST GESUND , behauptete der Arzt, mit dem die Eltern befreundet waren, aber Mutter traute ihm nicht. Dr. Eisner war ein
Landsmann
der Eltern und außer dieser Tatsache sprach für ihn seine lebensweise Überzeugung, dass Mütter am besten wissen, was ihren Kindern fehlt. Ehe er uns hätte untersuchen können, sagte Mutter ihm daher immer, welche Krankheit uns befallen hatte und welche Medikamente er verschreiben musste, damit wir wieder gesunden. Meist einigten sie sich auf Pillen, die Bayrena hießen und uns verabreicht wurden, sobald wir fieberten und uns ein kratziger Husten quälte.
    In den Wintermonaten erwachten der Bruder und ich stets durch ein gewaltiges Scheppern und Rumpeln, denn um halb sechs Uhr rüttelte Mutter aus einer hohen schmalen Kohlenkanne die eiförmigen Kohlestücke in den Ofen, damit wir uns eine Stunde später nicht im kalten Zimmer würden ankleiden müssen. Der Lärm riss mich aus dem Schlaf, in den ich gleich wieder versank, ich wusste, wenn ich wieder erwachte, würde ich von bullernder Wärme umfangen sein. Dann sprang ich auf, eilte zum Fenster und schob den Vorhang zur Seite, um das Zauberwerk zu bestaunen: Über und über war die Fensterscheibe von phantastischen Eisblumen bedeckt, wie es sie auf keiner Wiese gab, sie schauten aus wie weiße schmale Lilien mit spitzen Blättern, wie Rittersporn mit unzähligen, gestochen genau gezeichneten Blütenknollen, Palmwedel, so scharf wie kleine Schwerter, wie die Zweige winziger Eiben und Lärchen … Auf dem Fenster war ein Ziergarten erblüht, in dem Blumen und Sträucher ineinander wuchsen, die die Natur nicht kannte und die auch niemals am selben Ort hätten gedeihen können. Ich hauchte an die Scheibe und kratzte mit dem Fingernagel ein paar Löcher in die Pracht, um zu schauen, ob frischer Schnee auf der Straße lag.
    Nach dem Frühstück wurde mir die Schultasche mit Riemen um die Schulter gehängt und die Mütze aufgesetzt, dann ging es hinaus in den dunklen Wintermorgen. An der Ecke drehte ich mich um und sah, dass die Mutter mir am erleuchteten Küchenfenster nachschaute. Hinter der Kurve nahm ich die Schultasche herunter, um sie, wenn Sabine nicht da war, selbst in der Hand zu tragen, und die Mütze steckte ich in die Manteltasche, weil nur brave Kinder die Schultasche am Rücken und die Mütze am Kopfe trugen.

ES WAR DER KÄLTESTE WINTER , den ich erlebt hatte, und keiner seither hat über das Land eine so klirrende Kette wolkenloser Tage und eisig leuchtender Nächte gebracht. Im Garten war der Schnee steinhart gefroren, und eines Tages begannen die älteren Kinder mit Schaufeln weiße Ziegel aus dem Schnee zu stechen und wie Baumaterial aufzuschlichten. Bruno, der schon sechzehn war und die Technische Lehranstalt besuchte, ein weicher, dicklicher Bursche mit roten

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