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Das Erste, was ich sah

Das Erste, was ich sah

Titel: Das Erste, was ich sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Markus Gauß
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das Haar hatte sie zu einem kräftigen, kastanienbraunen Pferdeschwanz gefasst, die Wimpern waren auffallend gebogen, und jeden Tag kam sie in einem anderen bunten Kleid zur Schule. Von ihren Eltern hieß es, sie seien reich und stammten aus einem Land namens Liechtenstein, in dem nur reiche Leute lebten, und wären nach Salzburg gekommen, weil ihr Vater hier eine große Firma leitete. Ich nahm mir vor, die ganze Stunde nicht zu ihr zu sehen, aber der Kopf wurde mir von einer unbekannten Kraft zur Fensterreihe gedreht, sodass sie mich doch wieder dabei ertappte, wie ich sie anstarrte. Gerade noch in ihr Heft vertieft, blickte sie langsam auf und ließ ihre Augen absichtslos zur Türreihe wandern, und wenn ihr Blick den meinen traf, ging in ihrem Gesicht ein vergnügtes Lächeln auf. Ich dachte mir oft Geschichten aus, die es mir ermöglichten, Marita zu retten, vor Schülern aus den oberen Klassen, die sie hänselten, vor Ungeheuern, die ich mit dem Schwert verscheuchte, gerne trug ich sie auch aus dem brennenden Schulhaus, aus dem sie nicht hatte flüchten können und das ich erstürmte, vorbei an den Feuerwehrmännern, die mich zurückhalten wollten und anflehten, mich doch nicht in solche Gefahr zu begeben.
    Eines Tages trat Marita in der Pause in den Kreis der Knaben, reichte mir eine Tafel Schokolade, so groß, wie ich noch nie eine gesehen, geschweige denn verzehrt hatte, und sagte: Meine Mutter lässt fragen, ob du einmal nach der Schule zu uns nachhause kommen magst. Und schon drehte sie sich mit fliegendem Haarschweif um und ließ mich in fürchterlicher Beklemmung zurück. Ein solches Geschenk vor all den Buben zu erhalten, die sich weigerten, mit Mädchen zu spielen, und sich an Zärtlichkeit höchstens erlaubten, sie an den Zöpfen zu ziehen, war eine Auszeichnung, die schwer zu ertragen war. Alle neideten sie mir die Schokolade, alle höhnten sie, dass ich sie erhalten hatte. In der Stunde darauf saß Marita wie immer in ihrer Bank, eine hellbraune Prinzessin mit dunkel strahlenden Augen im rundlichen Gesicht. Ich fühlte mich erhoben, dass ich es war, der ein Geschenk von ihr erhalten hatte, und haderte mit der Weise, wie sie es mir übergeben hatte. Wie gut kannte mich dagegen Sabine, die mich nur zu verwöhnen wagte, wenn die anderen es nicht merkten.
    Das Geschenk und die Art, wie es mir überreicht wurde, beschäftigten mich, bis die Mittagsglocke läutete und wir lärmend nach draußen liefen. Marita wartete bereits auf der Schultreppe und fragte: Nun, was soll ich meiner Mutter sagen? Ich bekam kein Wort heraus und schüttelte stumm den Kopf, sogleich entsetzt darüber, dass ich ihn schüttelte, und beschämt, dass mir, dem sonst immer etwas einfiel, kein Scherzwort zugeflogen war. Marita stieß durch die Zahnlücke, die sich in der Reihe kleiner, spitzer Zähne befand, einen überraschten Pfiff und kräuselte die Lippen zu einem Lächeln, wie ich es von ihr nicht kannte. Sie wurde von ihrer Mutter mit dem Auto abgeholt, einem weißen Sportwagen ohne Dach, mit dunkelblauen Ledersitzen, und Marita setzte sich vorne zu ihr, deren Locken unter einem Kopftuch hervorlugten und die ihre Augen hinter einer Sonnenbrille verbarg. Marita sagte etwas zu ihr und nickte in meine Richtung, und ihre Mutter lachte auf, winkte mir mit der Linken, die in einem hellen Lederhandschuh steckte, verächtlich zu, als wollte sie mich verscheuchen, und brauste davon.
    Die riesige Tafel Schokolade unterm Arm stapfte ich heimwärts, aufgewühlt, bis ich hinter der Bäckerei Sabine traf, die auf mich gewartet hatte. Sofort schenkte ich ihr die Schokolade und terrorisierte sie auf dem Heimweg mit übellauniger Grausamkeit. Am Nachmittag läutete ihre Mutter an der Tür, unterhielt sich flüsternd mit der meinen und übergab ihr, als wäre es Hehlerware, die Tafel, nach deren Herkunft ich daraufhin gründlich ausgefragt wurde, bis mich Mutter mit dem Wort »mein kleiner Casanova« in die Arme schloss und die Schokolade unverzüglich unter den Geschwistern aufteilte. Es handelte sich, wie sie mir sagten, um belgische Schokolade, die köstlich schmeckte und von der ich keine einzige Rippe probierte.
    Zwischen Tür- und Fensterreihe wurden keine Blicke mehr ausgetauscht, und ein paar Monate später kam Marita nicht mehr zur Schule, sie war, wie es hieß, mit ihren Eltern nach Montevideo übersiedelt, und der Bruder, der alle Hauptstädte der Welt auswendig kannte, erklärte mir, dass Montevideo die Hauptstadt eines weit entfernten

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