Das Erwachen
eigene Prophezeiung erfüllt. Und Sie akzeptieren die Einsicht, nichts gegen die Umstände ausrichten zu können. Fatalismus sagt man dazu. Ein lähmender, zersetzender, hingebungsvoller Fatalismus. Manche fühlen sich in der Phase des demütigen Niedergangs, des Versagens und der Schmach ausgezeichnet. Sie etwa auch?«
»Was habe ich im Krankenhaus alles gesagt«, wollte Sarah wissen, ohne auf die Frage einzugehen.
Carmen hob langsam ihre rechte Hand. »Hier an diesem Finger war über viele Jahre mein Ehering. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Sie haben im Krankenhaus unter Medikamenten stehend genau das gesagt, was ich vor acht Jahren auch gesagt und empfunden habe. Allerdings hatte ich mir keine Brücke ausgesucht, sondern mich mit dem Inhalt meines eigenen Medikamentenschrankes versorgt. Wie Sie sehen können, hat es bei mir auch nicht funktioniert. Heute bin ich froh drum.«
Sarah musterte Carmen, die den Kopf leicht gedreht hatte und das Amüseum – der Kunstname versprach einen amüsanten Museumsbesuch – den Wasserfall und die Brücke über die Leuk beobachtete, im Profil. Carmen hatte die Lippen aufeinander gepresst. Sie wirkten schmal. Nichts war mehr von der Freundlichkeit zu sehen, alles an ihr war Ernst und Vergangenheit und bittere Erinnerung.
Nach einer Weile sagte Sarah: »Ich kann nicht darüber reden.«
Carmen nickte, als hätte sie diese Antwort erwartet. »Verstehe. Ich kann es auch nicht. Zumindest nicht zu jedem. Es ist wie …, wie ein inneres Brandmal. Wenn man in sich hineinschaut, wird man immer wieder daran erinnert. Und ich schaue täglich mehrmals in mich hinein. Ein Spiegel meiner traurigen Niederlage, einer von mir selbst verschuldeten Niederlage. Es ist deprimierend. Und ich schäme mich. Auch noch nach Jahren. Ich werde es einfach nicht los. Und wenn dann noch meine Kinder …«
»Sie haben Kinder?«
Carmen lächelte flüchtig. »Ist es nicht Aufgabe einer jeden richtigen, aufrechten Frau, Kinder zu bekommen? Für die Familie und für ihren Mann da zu sein? Ihm beim Aufbau seiner Karriere zu helfen? Ich bin eine richtige und aufrechte Frau. Oder besser gesagt, ich war es.«
»Und wo sind Ihre Kinder jetzt?«
»Dort, wo ich nie wollte, dass sie sein würden. Auch ein Fazit meiner Niederlage.«
»Bei …, bei ihm?«
Carmen nickte. »Dafür, dass Sie nicht über Ihr Problem reden können, wollen Sie jedoch eine ganze Menge von mir wissen.« Aus den Augenwinkeln betrachtete sie Sarah und lächelte flüchtig.
»Entschuldigung.«
»Unsere Männer würden sich in einem solchen Fall nie entschuldigen. Im Gegenteil, sie würden für sich das Recht in Anspruch nehmen, informiert zu werden.« Carmen stand auf. »Kommen Sie, zeigen Sie mir Saarburg.«
Sie schlenderten durch die Innenstadt. Nur wenige Geschäfte interessierten sie – modern, freundlich dekoriert, gepflegt, sauber und einladend. Für die anderen Auslagen, oftmals ein buntes Sammelsurium, eher ein Lager hinter der verschmutzten, angelaufenen Schaufensterscheibe, wo alles ohne erkennbares System präsentiert wurde, hatten sie keinen Blick. Auch nicht für einige Häuser, die dringend hätten renoviert werden müssen. Farbe blätterte ab, undichte Regenrinnen hatten auf den Wänden dunkle, sich bereits grünlich verfärbende Streifen hinterlassen. Und bei einem großen zurückspringenden Gebäude war das Fensterglas im Obergeschoss angelaufen, fast blind, die Gardinen vergilbt. In einer Nische befand sich ein halb verfallener, großer Wintergarten mit verschmutztem und gerissenem Glas, vor Jahrzehnten ein Tanzcafé und Treffpunkt für die damalige Jugend. Wenig später gingen sie durch einen Tunnel und von dort über eine Treppe hinunter zur Saar.
»Warum mache ich eigentlich mit Ihnen einen Spaziergang?«, wollte Sarah wissen. »Sie wollen doch nur …«
Carmen schüttelte den Kopf. »Nichts will ich. Nichts, was Sie nicht auch wollen. Aber manchmal erklärt sich vieles nicht durch Fragen, sondern durch Zuhören. Und vieles erklärt sich durch Parallelen, die es häufiger gibt, als man vermutet. Frau von Rönstedt, Sie sind nicht die einzige Frau auf der Welt, in der Emotionen und schlimme Vorkommnisse und Ahnungen einen Krieg entfacht haben. Allein in Saarburg gibt es vielleicht Hunderte. Wie groß ist eigentlich Saarburg?«
»Ungefähr siebentausend Einwohner.«
»Nun, dann nicht Hunderte, aber mehr als hundert«, schwächte Carmen ab.
»Und wie ist es mit den Männern?«, wollte Sarah wissen.
Carmen zuckte
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