Das Erwachen
die Versicherungen und die Hausärzte forderten. »Aber Radfahren kann er nicht. Sehen Sie nur, wie der auf dem Sattel sitzt.«
Carmen registrierte die Ablenkung, und nach wenigen Zügen sprach sie langsam weiter. »So gedemütigt und bloßgestellt zu werden, setzte bei mir eine Kettenreaktion in Gang. Zuerst Wut, Enttäuschung und dann nur noch Hass. Hass, weil er, als ich ihn darauf ansprach, unumwunden alles zugab und sich anschließend nicht mehr die Mühe machte, seine Beziehung zu verbergen. Eine Beziehung übrigens, von der alle im Krankenhaus längst wussten, auch unsere vielen Freunde und Bekannten, wie ich später herausfand, nur ich nicht. Niemand hat je etwas zu mir gesagt, mich gewarnt, mir einen Tipp gegeben. Wahrlich alles gute Freunde! Eine verschwiegene Gemeinschaft von verlogenen Sympathisanten. Verdammt, was war ich einfältig. Warum sind Frauen immer so einfältig und gutgläubig?«
Gierig zog Carmen, die keine Antwort erwartete, an der Zigarette. Wütend stieß sie den Rauch aus. »Ich hatte niemanden, mit dem ich reden konnte, mit dem ich reden wollte. Keiner unserer gemeinsamen Freunde ist mir geblieben! Der Verlierer hat keine Freunde. Alles fraß ich in mich hinein. Und dann begann ich zu trinken. Um es kurz zu machen, wir reichten die Scheidung ein. Meinem Mann wurden die Kinder zugesprochen, weil er mich durch einen Privatdetektiv hatte überwachen lassen. Natürlich konnte der mit vielen Fotografien beweisen, dass ich angeblich eine Alkoholikerin war, oft in Kneipen ging, ins Kino oder in ein Tanzcafé. Und dann wurden wir geschieden. Unsere Konten waren geplündert worden, mein Mann hatte das gemeinsame Haus verkauft und das Geld eingesteckt. Wie sich später vor Gericht herausstellte, hatte ich ihm eine schriftliche Vollmacht gegeben. Aber ich konnte mich daran nicht erinnern. Und ich habe sie angezweifelt. Aber eine Alkoholikerin, als die ich dargestellt wurde, kann so etwas schon mal vergessen. So steht es in einem Gutachten. Ich stand plötzlich vor dem Nichts. Keine Familie, keine Kinder, kein Geld. Aber ich wurde neu geboren. Bis ich dies jedoch richtig begriffen hatte, dauerte es einige Monate. Und nun geht es mir gut. Gut bis auf den Umstand, dass ich meine Kinder nur zu bestimmten Zeiten sehen darf. Und bis auf den Umstand, dass ich bei Männern sehr wählerisch geworden bin. Kaum einer schafft es bis in die zweite Runde.«
Carmen hielt inne, drückte die Zigarette mit der Schuhspitze aus, lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Blind war ich, und dumm. Und wenn wir zweimal im Monat miteinander schliefen, dann war das für mich Liebe.«
»Hat Ihr Ex-Mann wieder geheiratet?«
Carmen nickte. »Und er ist erneut Vater geworden. Sein zweiter Sohn ist nun drei Jahre alt.« Und dann begann Carmen zu lachen. Ihr Oberkörper wurde geschüttelt, die Luft blieb ihr weg, sie hustete. »Wissen Sie, was das Stärkste ist?«
Carmen schaute Sarah an. »Das Stärkste ist«, sprach sie weiter, »dass er seit mehr als einem Jahr ein Apartment gemietet hat und dort bereits die nächste Gespielin eingezogen ist.«
Eine Weile gingen sie ihren Gedanken nach. Sarah erkannte Parallelen, aber so unendlich viel wie sie hatte Carmen bestimmt nicht gelitten. Keine andere Frau kann so leiden. Denn es gibt nur einen Henry.
»Schläft Ihr Mann auch nur noch zweimal im Monat mit ihnen?«
Sarah war überrascht von der Frage. »Wie …,« Und dann lächelte sie traurig. »Leider nein. Nur zweimal im Monat, das wäre schön.«
Nun war es an Carmen, überrascht zu sein. Das hatte sie nicht erwartet. Aber nach einem Blick in das Gesicht von Sarah verkniff sie sich die nächste Frage.
Die beiden Frauen erhoben sich und schlenderten zurück.
»Ich wohne, wie gesagt, in Kanzem. Das ist nicht weit, wenn man mit jemandem sprechen will. Mit jemandem, der auch zuhören kann.«
Sarah wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.
»Vielleicht wollen sie auch erst in einigen Wochen oder Monaten darüber sprechen«, baute ihr Carmen eine Brücke. »Ich stehe sogar im Telefonbuch.«
Unter der Brücke blieben sie stehen. Über ihnen rauschten die Autos, und Sarah erinnerte sich an die Situation des Vormittages, als sie unter der Autobahnbrücke gestanden hatte.
»Sie sehen sehr blass aus, Frau von Rönstedt.«
»Es ist noch nicht mal Frühjahr. Die vornehme Winterblässe, wie man so sagt.«
Carmen nickte. »Wenn es das nur wäre. Außerdem würde ich nicht Brombeere, sondern Himbeere wählen. Ich meine
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