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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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sie ein Taxi. Schwei­gend saß sie auf der Rückbank und schaute auf ihre Hän­de. Irgendwann seufzte sie, schaute hoch und begegnete dem Blick des Fahrers, der sie im Rückspiegel beobachtete. Schnell drehte sie den Kopf zur Seite und rutschte in den toten Winkel des Spiegels.
    Verwundert stoppte der Fahrer nach einer halben Stunde, kassierte den Fahrpreis und sah ihr kopfschüttelnd nach, wie sie zu Fuß auf die Autobahnraststätte zueilte. Zielstrebig steu­erte sie auf einen Parkplatz zu und blieb vor einem Sportcou­pé stehen. Sie öffnete die Fahrertür, glitt auf den Sitz, sah im Handschuhfach nach, warf einen Blick auf die beiden Notsitze im Fond und startete den Motor. Langsam rollte sie über die ehemalige Grenze nach Luxemburg, nur noch zu erkennen an dem blauen Schild mit den vielen gelben Sternen. Einen für jedes Land der Union.
    Gleich hinter der Raststätte nahm sie die nächste Ausfahrt und fuhr den Berg hinunter. Nach zwei Kilometern ließ sie das Coupé ausrollen und bremste unter der Autobahnbrücke.
    Sie stieg aus, öffnete den Kofferraum, zog sich bequeme Sportschuhe an und stieg langsam den Hügel hinauf. Dabei schaute sie auf den Boden, stieß hier und dort mit dem Fuß gegen einen Strauch, um nachzuschauen. Wegen des fehlenden Laubes wurde ihr die Suche erleichtert.
    Nach wenigen Minuten bückte sie sich zum ersten Mal und griff nach dem Führerschein, der zwischen zwei Steinen einge­klemmt lag. Es war ihr eigener. Ihren Personalausweis, in Folie eingeschweißt, entdeckte sie wenige Meter weiter. Und nach einer halben Stunde, als sie sich schon abwenden wollte, sah sie unter einem Strauch den weißen Umschlag. Zögernd, als müsse sie es sich noch einmal überlegen, zog sie den gefalteten Briefbogen hervor. Die Schrift etwas verlaufen, war aber jedes Wort deutlich zu lesen. Nach den ersten beiden Zeilen schloss sie die Augen und sprach den restlichen Text auswendig und in einem kaum hörbaren Flüstern. Tränen liefen über die Wange, ihre Stimme stockte. Sie zerknüllte das Papier und warf es weg. Nach wenigen Augenblicken jedoch besann sie sich anders, suchte in ihrer Handtasche nach Streichhölzern, hob das Knäuel auf und zündete es an. Es dauerte einige Sekunden, bis das feuchte Papier zuerst zu glimmen und dann zu brennen begann.
    Auf dem Rückweg fand sie noch ihr Feuerzeug mit dem eingravierten Firmenemblem des Autohauses von Rönstedt, das den Sturz intakt überlebt hatte. Sie steckte es ein, schaute nach oben, sah in mehr als siebzig Metern Höhe den grauen Beton der Brückenunterseite, hörte das Rauschen der Fahrzeuge und schüttelte sich, als könne sie dadurch die Erinnerung vertreiben. Aber die Erinnerung war frisch und forderte, dass sie sich mit ihr beschäftigte. Zu jeder Zeit, den ganzen Tag und auch die Nacht. Sogar in den Träumen.
    Nachdenklich fuhr sie zurück nach Saarburg. Zu Fuß ging sie in die Innenstadt, fand einen sonnigen Platz in einem Straßencafé und bestellte einen Cappuccino. Immer noch in Gedanken, betrachtete sie das sanfte Kräuseln des Leukbaches, der wenige Meter weiter mehr als fünfzehn Meter in die Tiefe stürzte und drei alte, bemooste Mühlräder zum Laufen brachte. Der Wasserfall mitten in der Stadt ist, neben der Burg, Saarburgs Attraktion. Und viele Holländer, die im Sommer hier oder in einem nahe gelegenen Feriendorf Urlaub machen, sehen zum ersten Mal in ihrem Leben einen Wasserfall.
    Sie beobachtete die wenigen Passanten, ohne sie zu sehen. Ihre Augen wanderten über die Häuser mit den bunten Farben – einige aus Fachwerk, schief und geduckt, andere renoviert oder neu errichtet –, ohne sie zu registrieren. Vom Amüseum, einem früheren Wasserkraftwerk, glitten ihre Augen zur wuchtigen Laurentiuskirche, dann weiter zum Kunoturm, Relikt einer ehemaligen Befestigungsanlage und zugleich der höchste Punkt der Altstadt, und wieder zurück auf die andere Seite der Leuk in die schmalen, gepflasterten Gassen.
    Sie setzte eine Sonnenbrille auf und wollte nicht erkannt werden. Kein leichtes Unterfangen in einer Stadt, wo jeder jeden kannte. Zumindest jedoch jeder sie und ihren Mann kannte.
    »Ist hier noch frei?«
    Irritiert schaute sie zuerst neben und dann hinter sich, viele Plätze waren noch frei. Warum ausgerechnet …
    Leicht unwillig betrachtete sie das Gesicht der Frau. Es kam ihr bekannt vor, trotz der Brille mit den dunklen Gläsern und trotz des Seidenschals, welcher die langen braunen Haare bändigen sollte, kurz über der Stirn

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